Tunesien, Literatur, 2016

Meriam
Bousselmi

Foto: Bohumil Kostohryz

Als die Menschen in Tunesien im Anschluss an den Tod des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi auf die Straßen gingen und damit den sogenannten Arabischen Frühling einläuteten, befand sich unter ihnen auch Meriam Bousselmi. Für die 1983 in Tunis geborene Autorin und Regisseurin – die in jenen Wochen zugleich ihr Studium der Rechtswissenschaften abschloss – brachen hoffnungsvolle Zeiten an: Endlich hatte sich – so schien es – der Wunsch nach einem Leben unter den Bedingungen der Freiheit, wie sie es als Dramatikerin bereits in vielen ihrer Theaterstücke Stücke verhandelt hatte, Bahn gebrochen.

Rasch aber zerstoben die Hoffnungen: 2011 wurde die Autorin für ihr Stück „Mémoire en retraite“, das parabelhaft die Mechanismen einer Diktatur aus dem Blickwinkel der Unterdrückten erzählt, zwar noch beim 4. Arabischen Theater Festival mit dem „Sheikh Sultan Bin Mohammed Al Qasimi Award“ für die „Beste arabische Theateraufführung 2011“ ausgezeichnet. Doch schon 2012 wurden sie mit ihrer Truppe von den Salafisten aus einem Proberaum verjagt – Inszenierungen ihrer Stücke in Tunis waren nicht mehr denkbar. Inzwischen sind die Rollläden der mühsam gefundenen neuen Proberäume in Tunis stets geschlossen – und Meriam Bousselmi feiert Uraufführungen auf den internationalen Bühnen rund um die Welt. Zu entdecken ist mit ihr eine der aufregendsten und wichtigsten Stimmen der zeitgenössischen jungen Dramatik in Tunesien. Diese zählt im Lande übrigens selbst zu den jüngsten literarischen Formen; daran konnte auch die Arbeit des großen, 2015 verstorbenen Regisseurs und Dramatiker Ezzedine Gannoun nichts ändern, der mit dem El-Hamra-Theater in Tunis einen auch für Meriam Bousselmi inspirierenden Ort der künstlerischen wie politischen Debatten geschaffen hatte. Eine formale Ausbildung für Dramatik findet man also in Tunesien ebenso vergeblich wie eine Tradition der Theaterkritik. Entsprechend ist Meriam Bousselmi, die ihre Werke sowohl auf Französisch als auch auf Arabisch verfasst, Schriftstellerin und Dramatikerin in einem. Auch inhaltlich macht sie aus der Not eine Tugend: Alle ihre Stücke sind kritische Interventionen, die mit den erfinderischen Mitteln der Kunst die Politik zurück auf die Bühne bringen: Ausgehend vom Platz des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft, erkundet sie jeweils die Parameter menschlicher Freiheit und die Möglichkeit einer Gesellschaft jenseits der Mechanismen von Unterdrückung und Macht. In ihrem Monodrama „Was der Diktator nicht gesagt hat“ verarbeitet die Autorin beispielsweise die Illusionen und Enttäuschungen des Arabischen Frühlings, diesmal aber aus der Sicht eines namenlos bleibenden Ex-Machthabers.
Der stark philosophisch argumentierende Monolog sondiert dabei vor allem die psychologischen Muster der alltäglichen Unterwerfung und legt nahe, dass Freiheit nicht von außen verordnet, sondern nur von innen heraus erlangt werden kann. Von solch emanzipatorischer Kraft lebt auch das Stück „Sünde Erfolg“: Basierend auf eigenen Erfahrungen – Meriam Bousselmi wurde ein wichtiger Preis verliehen, doch auf die Bühne wurde statt ihrer der Produzent des Stückes gerufen – verhandelt sie darin das Rollenmodell der unterwürfigen Frau und die Frage nach der Unmöglichkeit weiblichen Erfolgs in einer von Männern beherrschten Gesellschaft. Angelegt wie ein Stück im Stück, wechselt der Text beständig die Ebenen: Fiktion, Kommentare der Fiktion und die Rekonstruktion biografischer Erfahrungen aller Akteurinnen gehen ineinander über; die Ansichten der Figuren überschneiden sich mit denen der sechs Schauspielerinnen. Das Verhältnis der Geschlechter, vor allem das Tabu der Jungfräulichkeit, steht auch im Mittelpunkt von „Brouillon de vie“ – einem mit allen Wassern der Postmoderne gewaschenem Buch, das sich in kein Genre einordnen lässt und 2007 mit dem Literaturpreis des Arab Fund for Arts and Culture ausgezeichnet wurde. Inzwischen weht im Zuge der Arabellion auch in Tunesien für Frauen bekanntlich ein anderer Wind, und so sind Meriam Bousselmis künstlerische Einlassungen zu Formen nicht nur des weiblichen Widerstands zwar umso dringlicher, aber auch umso riskanter. „Sünde Erfolg“ feierte daher Uraufführung 2013 in Köln. Die „Truth Box“ – eine Art öffentlicher Beichtstuhl, der an unterschiedlichen Orten im öffentlichen Raum installiert werden kann – gelang im gleichen Jahr in Berlin zur Uraufführung. Das Stück ist eine fortlaufend erweiterte Sammlung intimer Beichten von Menschen aus unterschiedlichsten sozialen Milieus und Klassen. Der Zuschauer wird dabei zum Zuhörer, das Intime zur Res publica, der Theaterraum zu einer antiken Agora, die daran erinnert, was der öffentliche Raum im Idealfall sein kann: Ein Raum der Gleichwertigkeit, der Pluralität und des freien Austauschs von Worten, Werten und Erfahrungen. Moralische Urteile zu fällen, liegt der Autorin auch in diesem Stück gänzlich fern. Vielmehr versteht sie all ihre Stücke als einen Ort, an dem der in ihrer Heimat dringend notwendige Dialog eröffnet und gelernt werden könne. Denn die Revolution ist zwar erst einmal vorbei, der gesellschaftliche Umbruch allerdings noch immer in vollem Gange. Jeden Tag gilt es auch für die Kunst, im Tauziehen zwischen den konservativ-islamistischen und den liberalen Kräften die eigenen Freiheiten, Grenzen und Pfründe neu zu verhandeln. Meriam Bousselmi lässt sich davon nicht abschrecken, im Gegenteil: „Da das Theater nicht die Welt verändern kann“, so die Autorin, „müssen wir die Art, wie wir Theater machen, ändern.“ (In: taz, 16.11.2013, Gespräch mit Christoph Zimmermann)

Text: Claudia Kramatschek

Mémoire en retraite. Theaterstück. Übersetzung: Leila Chammaa und Youssef Hijazi. Hartmann & Stauffacher Verlag. Köln 2012.
Sünde Erfolg. Theaterstück. Übersetzung: Andreas Bürger. Hartmann & Stauffacher Verlag. Köln 2013.
Truth Box. Theaterstück. Übersetzung: Silvio D’Allesandro. Hartmann & Stauffacher Verlag. Köln 2013.
Was der Diktator nicht gesagt hat. Monodrama. Übersetzung: Silvio D’Allesandro. Hartmann & Stauffacher Verlag. Köln 2014.

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