Rumänien, Film, 2023

Radu
Jude

Foto: Jasper Kettner

Vor knapp zwei Jahrzehnten begann der Aufstieg des rumänischen Kinos. Es war, als habe jemand einen Schleier gelüftet, und plötzlich war die Sicht frei auf Autorenfilme, die einen anderen Weg einschlugen als diejenigen, die es in Europa sonst zu sehen gab: Filme mit gedimmten Kameraeinstellungen, einer beunruhigenden Halbdistanz, Dialoge ohne aufgerüschte Sätze, ein entdramatisiertes, hochpräzises Erzählen. Schnell hieß es: Das ist die rumänische Nouvelle Vague, eine aufregende, schließlich auf Filmfestivals sehr preisgekrönte Ästhetik, aus einem Land, in dem es selbst kaum noch 70 Kinos gab. Es war eine ästhetische Linie, die rasch zur Konfektion wurde, zur Filmsprache eines Landes, und all das muss man erzählen, damit man versteht, warum Radu Jude, 1977 in Bukarest geboren, aus dieser inzwischen so renommierten Kinolandschaft herausragt. Jude, der nie an einer Filmhochschule angenommen wurde, gehört, wenn man dies sagen kann, zur zweiten Generation neuer rumänischer Regisseure. Und sein Werk – inzwischen mehr als 20 Filme und Kurzfilme – ist wohl das komplexeste, spielerischste und bisweilen anarchischste, das im rumänischen, und wohl auch im europäischen Kino dieser Tage zu sehen ist.

In jedem seiner Filme versucht Jude, seinen ohnehin so originellen Formenreichtum zu erweitern und auf die Probe zu stellen. Sein filmisches Werk ist voller Experimente und Brüche. Kein Film ähnelt dem vorherigen. Seine Bildsprache, sein Einfallsreichtum, seine filmische und auch – das muss man hier erwähnen – literarische Intelligenz stehen in Europas Kino für sich allein. Seine Filme haben sich von der international anerkannten und vielleicht schon routiniert eingeübten Ästhetik des rumänischen Kinos längst emanzipiert, die er so oft unterläuft. Filme von Radu Jude können fordernde Satiren sein, hochpolitische, dokumentarische Collagen, theaterhafte Episodenfilme, Komödien über tragisches Kommunikationsversagen. In vielen werden die Konventionen des filmischen Erzählens lustvoll überschritten, oft produzieren sie einen eigenwilligen poetischen Überschuss, manchmal sind sie von gnadenloser Strenge. Im Jahr 2015 erschien Aferim, ein schwarzweißer, westernhafter Film über die Lage der Roma im Rumänien des 19. Jahrhunderts. Jude braucht hier nicht viel: einen Polizisten auf einem Pferd, einen Sklaven, eine nahezu slapstickhafte Herr-und-Knecht-Szenerie, die ihren ernsten Gehalt nie verschleiert. Dafür erhielt er zu Recht den silbernen Bären der Berlinale.

Radu Jude ist ein überaus politischer Regisseur. Er thematisiert in seinem Werk die rumänische Verstrickung in den Holocaust oder die Gewalt und Verfolgung durch die Securitate im Ceaușescu-Regime. Bad Luck Banging or Loony Porn, 2021 mit dem Goldenen Bären der Berlinale prämiert, ist eine von aufklärerischer Wut getriebene Komödie über die Scheinheiligkeit der post-totalitären Gesellschaft Rumäniens. Man darf bei allem politischen Ernst, den Judes Filme in sich tragen, aber nie vergessen: Er ist auch ein großer Unterhalter

Text: David Hugendick

Vergangen

zum Seitenanfang