Brasilien, Film, 2023

Gustavo
Vinagre

Foto: Jasper Kettner

Der Filmemacher Gustavo Vinagre hat bisher über 14 Kurz- und sechs Langfilme geschrieben und gedreht. Auf ein Literaturstudium an der Universität von São Paulo in Brasilien und ein Filmstudium an der Internationalen Hochschule für Film und Fernsehen auf Kuba folgte eine mittlerweile über zehnjährige, erfolgreiche Karriere. Seine Filme sind bekannt für ihre pulsierende Queerness und ihren intimen Umgang mit Bild und Ton. Der preisgekrönte Film Três tigres tristes ist sein erster Spielfilm und wurde erstmals 2022 im Rahmen des Berlinale Forum gezeigt.

Zwischen melancholischem Optimismus und pessimistischer Freude weist Três tigres tristes charakteristische Elemente in Vinagres Filmografie auf. Von visuellen Fragmenten der Popkultur bis zur Ablehnung naturalistischer Schauspielstile geht er von einem Wohlfühlfilm zur Darstellung einer hoffnungsvollen Welt über. Aufgrund einer nicht näher benannten Pandemie, die von einem Atemwegsvirus ausgelöst wird, finden sich die ProtagonistInnen in ihren Wohnungen gefangen. Der häusliche Raum wird zu ihrer gemeinsamen Arena für Bildung, Arbeit und Sexualität, während sich der urbane Raum in einen Ort der vorübergehenden Intimität, Erinnerung und Trauer verwandelt.

Das Zuhause ist ein wiederkehrender Schauplatz in Vinagres Filmen, von denen viele als „Apartmentfilme“ bezeichnet wurden. Diese Beschreibung verweist sowohl auf die Schauplätze der Filme wie auch auf ihre pornografisch-persönliche Vision eines Kinos, das am Rande des Wirtschaftssystems entsteht. Sie entspricht einer Herangehensweise an das Filmmachen, die ihren eigenen filmischen Ausdruck durch das Zusammentreffen von Körpern und Bildern entwickelt; eine modulare und relationale Praxis, die auf den Beziehungen zwischen denjenigen beruht, die sich innerhalb und außerhalb des Bildes bewegen. Innerhalb der Geschlossenheit der Wohnung eröffnet sich ein Raum für intime Beziehungen.

In Dokumentarfilmen wie Vil, má (2020), A rosa azul de Novalis (2018), Lembro mais dos corvos (2017) und Filme para poeta cego (2012) bietet die Wohnung eine Bühne zur Schilderung von Gefühlen, sexuellen Fantasien, Fetischen, Traumata, Schmerzen und Verlangen. Sie ist ein theatralischer Raum, in dem es keine Grenzen zwischen Realität und Fiktion, zwischen Erinnerung und Vorstellung gibt. Bezogen und eingerichtet, werden Wohnungen zum ästhetisierten oder künstlichen Heim der Figuren. Die visuelle Isolation wird mit einer bemerkenswerten Annäherung an das gesprochene Wort kombiniert: Durch Aussagen, Geständnisse und Performances werden Individuen und Figuren eins. Es handelt sich um Filme, die aus komplexen Schichten wiederkehrender Kooperationen hervorgegangen sind, und während sie zutiefst persönlich bleiben, stellen sie auch ein Abbild Brasiliens und ein Fragment seines alltäglichen und politischen Lebens dar.

Im Inneren wie im Äußeren ist das Werk von Gustavo Vinagre ein Kino der Poesie und des Begehrens, in dem die Queerness den Bereich der Repräsentation überschreitet und Teil des Bildgewebes wird. Eine konkrete und realistische Utopie, die Idealisierungen ablehnt. Ein Raum, in dem das Selbst und das Andere miteinander verschmelzen. Oder wie der berühmte Schriftsteller Glauco Mattoso in Filme para poeta cego  behauptet: „Die Realität der anderen ist auch meine Realität.“

Text: Pedro Tinen und Sérgio Silva
Übersetzung: Anna Jäger

Vergangen

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