Libanon, Film, 2016

Ghassan
Salhab

Ganz konkret und entrückt zugleich umkreisen Ghassan Salhabs Filme und Videoarbeiten das Leben in und um Beirut – einer Stadt, die sieben Mal zerstört und wiederaufgebaut wurde. Mit kraftvollem Soundtrack und Bildern von großer Intensität fragt der Regisseur in seinen Filmen unter anderem nach dem „Status der Kunst in Zeiten von Terror und Krieg“ (aus dem Berlinale-Katalog 2015) und den Prämissen menschlicher Gemeinschaft.


Ghassan Salhab gehört zu den wichtigsten Regisseuren aus dem Libanon. Er wurde 1958 als Sohn libanesischer Eltern im Senegal geboren. Neben seinen bislang sechs Spielfilmen realisierte er zahlreiche Kurzfilme und Videos. Seine Filme waren weltweit auf den wichtigsten Festivals von der Berlinale über Cannes, Marseille, Tribeca bis Locarno zu Gast. Außerdem arbeitet er seit 1986 als Drehbuchautor bei etlichen französischen und libanesischen Filmen mit. Im Libanon und im arabischen Raum ist er an verschiedenen Universitäten und anderen Institutionen als Filmdozent tätig. Bei „Baalbeck“ (2000, Video, 25‘) arbeitete Ghassan Salhab mit einem weiteren Gast des Berliner Künstlerprogramms, Akram Zaatari (BKP-Gast 2010), zusammen. Er publiziert Texte und Artikel in verschiedenen Magazinen. Im Jahr 2012 erschien sein Buch „Fragments du Livre du naufrage“ als zweisprachige Ausgabe auf Arabisch und Französisch. 2002 kehrte Ghassan Salhab aus Frankreich in den Libanon zurück.
Ghassan Salhabs Werke erhielten weltweit Preise – als bester Regisseur aus der arabischen Welt wurde er etwa beim Abu Dhabi Filmfestival 2014 für „La Vallée“ ausgezeichnet, den Preis für den besten Hauptdarsteller erhielt „Le Dernier Homme“ (2006) beim Festival in Singapur und den für den besten Soundtrack bekam „Beyrouth Fantôme“ 1998 beim Festival in Nantes.
Konzentriert und präzise dekliniert Ghassan Salhab in scheinbar losgelösten Mikrokosmen die Bedingungen menschlichen Miteinanders durch. Der libanesische Bürgerkrieg und dessen Folgen wie Angst und Emigration schwingen mit, werden aber zu allgemeingültigen Erfahrungen verdichtet. Ghassan Salhabs Regie und Kameraführung beziehen ihre Kraft aus der Reduktion. Seine Bandbreite reicht dabei von Kammerspielen („La Vallée“, 2014 / „La Montagne“, 2011 / „Terra Incognita“, 2002 / „Beyrouth Fantôme“, 1998) über die lyrische Dokumentation „1958“ (2009) und Videoarbeiten bis hin zum Vampirfilm („Le Derniere Homme“, 2006), einer Hommage an Murnaus „Nosferatu“. Seine letzten beiden Filme gehören zu einer Trilogie, deren abschließenden Teil, „La Rivière“, Ghassan Salhab in Berlin entwickeln will. Alle drei verbindet der Schauplatz Beirut, den er nach eigener Aussage als einen der Darsteller betrachtet.
Ähnlich dem Namenlosen in Pasolinis „Teorema“ wird in „La Vallée“ (2014) ein Mann mit Gedächtnisverlust zur Projektionsfläche. Seine Anwesenheit lässt die unterdrückten Spannungen in der Abgeschiedenheit einer drogenproduzierenden, aber dennoch alltäglichen Gemeinschaft implodieren. Auch in „Beyrouth Fantôme“ (1998) sprengt ein scheinbar Fremder die Gegenwart – zehn Jahre nach seinem Verschwinden taucht dieser Mann plötzlich wieder auf. „Ein intelligenter Thriller über Wahrnehmung, Loyalität und Betrug“, urteilte die New York Times. In seinen Debütfilm integrierte Ghassan Salhab auch Gespräche seiner Schauspieler über den Film und vermittelte so „einen persönlichen Eindruck davon, welchen Effekt der Krieg im Libanon auf die Menschen“ hatte. Noch minimalistischer als sonst ist das Setting in „La Montagne“ (2011): Ein Mann schließt sich in einem Hotelzimmer ein, um Gedichte zu schreiben. Durch exzellente Kameraarbeit und die ruhige Präsenz seines Hauptdarstellers meistert der Regisseur die Herausforderung, diesen inneren Konflikt zu visualisieren.
„Die Verbindung aus Heiligem, Sublimem und Zeitgenössischem, sein Vermögen für bildhafte Experimente und Manipulation, unterstreicht die Einzigartigkeit seiner avantgardistischen Arbeiten.“ So die Autorin und Dozentin Ghalya Saadawi in ihrem Aufsatz „Untouch Me“ über Ghassan Salhabs Videoarbeiten, denen sie einen „überwältigenden Eindruck von Leere und Immaterialität“ zuschreibt. Dennoch seien sie immer lebensbejahend, geradezu exzessiv. In „La Rose de Personne“ (2000) überlagern sich die Straßenaufnahmen, die aus einem fahrenden Wagen heraus aufgenommen wurden, in einer ewigen Bewegung – die Straße verschwimmt, so wie unsere Erinnerungen. Auch in „Posthume“ (2006), „Narcisse perdu“ (2004) und „Mon corps vivant, mon corps mort“ (2003) spiegeln und überlagern sich die Bilder, sowohl auf der visuellen als auch der symbolischen Ebene. Unterlegt mit Musik von Arvo Pärt, Giya Kancheli und einem schlagenden Herzen verwandelt sich in „Mon corps vivant, mon corps mort“ (2003) der Körper des Künstlers ikonenhaft. Christus letzte Worte füllen die Leinwand: Noli me tangere. Rührt mich nicht an. Das Gegenteil ist bei Ghassan Salhabs Filmen der Fall: Gerade durch den sparsamen Einsatz ihrer Mittel rühren sie an.

Text: Maike Wetzel

2014 La Vallée (Spielfilm, DCP, 134’)
2011 La Montagne (Spielfilm, DCP, 83‘)
2009 1958 (Spielfilm, 66’)
2006 Le Dernier Homme (Spielfilm, 35 mm, 101‘)
2002 Terra Incognita (Spielfilm, 35 mm, 120‘)
1998 Beyrouth Fantôme (Spielfilm, 35 mm, 116‘)

Vergangen

zum Seitenanfang