Libanon, Bildende Kunst, 2016

Rayyane
Tabet

Rayyane Tabet wurde 1983 in Ashquot im Libanon geboren und studierte Architektur an der Cooper Union in New York und Bildende Kunst an der University of California in San Diego. Seine (überwiegend skulpturalen) Arbeiten behandeln häufig Themen aus der modernen Geschichte der Libanesischen Republik, wobei er auf persönliche Erfahrungen und Erinnerungen sowie eigenständige Recherchen zurückgreift.

‚FIRE / CAST / DRAW’ (2013) besteht aus rund 10.000 Blei-Unikaten, die alle nach dem Divinationsritual (oder Molybdomantie) des Bleigießens hergestellt wurden. Bei diesem Brauch, der bis in die griechische Antike zurückreicht, wird geschmolzenes Zinn oder Blei in kaltes Wasser geworfen. Die dabei entstehenden Metallformen bzw. ihr Schattenwurf können dann als Omen für die Zukunft gedeutet werden. Tabets Plastik rekurriert auf den Glauben, dass die Bleiklumpen in ihrer abstrakten Form die Gesichter von Menschen mit bösem Blick zeigen. Ihr Blei stammt aus der letzten Munitionsfabrik des Libanon, was die rituelle Abwehr des Bösen noch unterstreicht.

‚Cyprus’ (2015) ist eine Plastik, bei der ein großes gefundenes Objekt – ein halbverrottetes Holzboot – als Gegengewicht zu einem verrosteten Anker über der Erde schwebt. Tabets Vater hatte eben jenes Boot in den 1980er-Jahren gemietet, um damit aus dem Libanon nach Zypern zu flüchten – eine Reise, die nach nur 30 Minuten zu Ende ging. Die Arbeit setzt sich mit einer Kindheitserinnerung auseinander, deren wahre Implikationen erst viel später begriffen wurden. Diese etwas archäologische Strategie, ein Objekt oder Material zu identifizieren, um persönlichen oder kollektiven Erinnerungen nachzugehen, kommt auch in anderen Arbeiten zum Ausdruck.

Verschiedene Werke haben einen Bezug zur Transarabischen Pipeline (TAPLine), einem Gemeinschaftsunternehmen von amerikanischen Ölfirmen, die sich 1946 zum Bau einer Ölpipeline im Nahen Osten zusammenschlossen. Die Pipeline war zunächst für den Transport von Erdöl zwischen Dharan in Saudi-Arabien und Haifa – damals Teil des britischen Mandats Palästina – vorgesehen, wurde dann jedoch nach dem Teilungsplan ins libanesische Sidon umgeleitet. In einer Reihe von Arbeiten hat sich Tabet mit der Geschichte ihres Baus und der späteren Auflösung der Ölgesellschaft 1983 auseinandersetzt.

In manchen Arbeiten erkundet er die physischen Eigenschaften der Pipeline, ihre Bauweise, ihren Verlauf und ihren Umfang. Eine fortlaufende Arbeit, die 2013 begann, besteht aus Stahlringen in derselben Stahlstärke und mit demselben Durchmesser wie die TAPLine. Die in Abständen von 10 cm auf dem Boden der Galerie installierten Komponenten von ‚Steel Rings’ sind jeweils mit einer eingemeißelten Zahl versehen, die den Abstand von der Quelle der Pipeline und ihre geografischen Koordinaten angibt. Die Skulptur soll so schließlich die volle Länge der 1213 km langen Pipeline sichtbar machen. Andere Arbeiten beschäftigen sich mit der Firmengeschichte der Ölgesellschaft. In ‚Three Logos’ (2013) reproduziert Tabet die Embleme von Caltex, Esso und Mobil – der drei an TAPLine beteiligten Erdölfirmen – in Form einer Reihe von pulverbeschichteten Stahlskulpturen, die wie Mobiles von der Decke der Galerie baumeln. ‚Letterhead’ (1950¬–2013) ist eine ‚abstrahierte Zeitschiene’ von Dokumenten, die in der verlassenen Zentrale von TAPLine in Beirut gefunden wurden.

In seiner Herangehensweise ähnelt Tabet einem Archäologen, der die materiellen Reste der TAPLine rekonstruiert und ihre Geschichte neu erzählt, da er der Überzeugung ist, dass der Schatten des Unternehmens ‚parallel zu den Landverschiebungen’ in der Region verläuft. Seiner Ansicht nach ist ‚die nicht mehr genutzte Infrastruktur ein Maß, das sich in Markierungen, Gegenständen und Geschichten abbildet. Diese Linien bilden die Gegenwart und bieten Blickwinkel, um die von ihnen definierten Entfernungen zu erfassen.’

Vergangen

zum Seitenanfang