Chile, Film, 2012

Sebastián
Lelio

In nur drei Tagen drehte Sebastián Lelio seinen ersten abendfüllenden Film. Danach verbrachte der Regisseur allerdings ein ganzes Jahr im Schneideraum. Die Mühe bei der Montage lohnte sich: „La Sagrada Familia“ (2006) brachte Sebastán Lelio weltweite Anerkennung ein.


Sebastián Lelio, Jahrgang 1974, wuchs in Chile auf und lebt heute in dessen Hauptstadt. Er studierte an der chilenischen Filmschule und realisierte zunächst Kurzfilme (Four, Chamber Music, 12 Minutes, Vital Burden, City of Wonders, The Kulechov Effect) und einige Dokumentarfilme (Mi mundo privado, Cero), bevor er 2006 beim Filmfestival in San Sebastian, Spanien, mit dem Spielfilm „La Sagrada Familia“ (Die heilige Familie) debütierte. Momentan bereitet er seinen vierten abendfüllenden Film vor, der den Arbeitstitel „Realismo maternal“ (I’m Sorry Mom) trägt.
Sebastián Lelios Filme sind Kammerspiele, bestimmt von starken Gefühlen und nicht von äußerer Aktion. Die Handlung beschränkt sich meist auf wenige Figuren, deren Welt, zeitlich und örtlich eng begrenzt, ins Wanken gerät: Über die Osterfeiertage zersetzen unterdrückte sexuelle Begierden eine ganze Familie („La Sagrada Familia“, 2006). Drei Jugendliche feiern ihr ganz eigenes Fest der Liebe („Navidad“, 2009). Ein Gefangener bricht aus und trifft auf einen gestrandeten Tiger („El año del tigre“, 2011). Sebastián Lelios Mikrokosmen sind weitestgehend improvisiert. Er selbst begreift seine Filme als Kreuzung zwischen Dokumentar- und Spielfilm.
Weder der Dialog noch die Bewegungen der Schauspieler werden durch die Regie festgelegt. Dennoch sind Bild und Ton sehr bewusst gestaltet. In „El año del tigre“ (2011) etwa tragen die Geräusche entscheidend zur Atmosphäre des Films bei: Das Anschwellen der Gezeiten, die Schreie der Verletzten, die Gesänge aus der Kirche. Die schnelle, wackelige Handkamera ist allen Filmen gemeinsam. Die Schauspieler sind so frei in ihren Bewegungen. Die Kamera folgt ihnen und nicht umgekehrt. Der massive Einsatz von Nahaufnahmen unterstreicht die Gefühle der Protagonisten, die handlungsentscheidend sind.
Familienkonflikte oder die Abwesenheit von menschlicher Nähe stehen im Mittelpunkt von Sebastián Lelios Filmen: In seinem Debütfilm „La Sagrada Familia“ (2006) bricht an einem Osterwochenende die Fassade einer Familie in sich zusammen. Der Architekturstudent Marco reist ins Strandhaus seiner Familie. Das Eintreffen seiner Freundin, der Schauspielstudentin Sofia, bringt versteckte Begierden zum Vorschein. Nicht nur Marcos Eltern, sondern auch eine junge Nachbarin und zwei von Marcos Kumpeln sind Teil des erotischen und emotionalen Karussells. Der Film wurde mit Pasolinis „Theorema“ verglichen, erinnert in der Machart aber eher an das Werk von John Cassavetes. Sebastián Lelios Debütfilm lief auf über hundert Festivals und gewann etliche internationale Preise. Unter ihnen waren der Preis für den besten Film sowie der Kritikerpreis beim Festival von Toulouse, der Hauptpreis beim Era New Horizons Filmfestival in Polen sowie der Preis für den besten Spielfilm in Seoul.
Katholische Feiertage hält Sebastián Lelio für ideale Brutstätten für familiäre Reifungsprozesse. In „Navidad“ (2009) verstricken sich die drei Protagonisten an Weihnachten in sexuellen und sozialen Identitätskrisen. Diesmal aber handelt es sich um drei Heranwachsende – den jungen Ale, seine Freundin Aurora und die Ausreißerin Alicia. Auf der Flucht vor ihren brüchigen Elternhäusern finden sich die drei in einem verlassenen Ferienhaus wieder. Sebastán Lelio interessieren ihre Konflikte vor allem als Ausdruck jener ersten in der Demokratie geborenen Generation des „New Chile“. Der Film entstand mit Hilfe eines Aufenthaltsstipendium des Festivals von Cannes und feierte dort auch 2009 seine Premiere. „Navidad“ gewann unter anderem den Fipresci Preis beim Transilvania Festival in Rumänien, den Spezialpreis der chilenischen Kritiker und wurde in Chile für acht Pedro-Sienna-Preise nominiert.
Die gesellschaftliche Aussage ist in „El año del tigre” (2011) offenbarer als in den vorherigen Filmen. Sebastián Lelio nutzt in dem Film die durch eine Naturkatastrophe entstandene Szenerie: Im Februar 2010 starben bei einem Erdbeben und dem anschließenden Tsunami in Chile über fünfhundert Menschen, und Tausende wurden obdachlos. Ein unerwarteter Nebeneffekt der Zerstörung war die Flucht von etlichen hundert Gefängnisinsassen sowie von Zoo- und anderen Tieren. Noch bemerkenswerter: Die freiwillige Rückkehr vieler entflohener Krimineller. Sie fanden sich in dem entstandenen Chaos außerhalb des Gefängnisses nicht zurecht. Sebastián Lelios Film folgt einem fiktionalen Ausbrecher durch das zerstörte Chile. Seine einsame Flucht gipfelt in der Begegnung mit einem gestrandeten, eingesperrten Tiger. Nahezu ohne Dialoge nutzt „El año del tigre” die metaphorisch stark aufgeladenen Schauplätze von Gefängnis und einem zerstörten Land, um eine Geschichte über die Grenzen der Freiheit zu erzählen. Der Film feierte seine Premiere im internationalen Wettbewerb von Locarno, wo er mit dem Preis für Umwelt und Lebensqualität ausgezeichnet wurde. Außerdem erhielt der Film den Work-in-Progress-Preis beim Festival von Santiago de Chile. Momentan befindet er sich auf weltweiter Festivaltour. Bislang lief „El año del tigre” unter anderem noch in Toronto.
Als Charakterstudie und gleichzeitig als Untersuchung einer zerbrochenen Familie plant Sebastián Lelio seinen vierten Spielfilm. Unter dem Arbeitstitel „Realismo maternal“ (I’m Sorry Mom) soll sich die Handlung um die optimistische Luisa drehen, die nach 30 Jahren Ehe von ihrem Ehemann verlassen wurde. Ihr einziger Sohn kehrt für die zweite Heirat seines Vaters für ein paar Tage zu seiner Mutter zurück.
Eine kleine Waldarbeitersiedlung im Süden Chiles soll der Schauplatz von Sebastián Lelios nächstem Film werden. Unter dem Arbeitstitel „The Industrial Revolution“ wird sich sein dramaturgischer Kosmos damit zum ersten Mal auf eine größere Gemeinschaft erweitern.

Text: Maike Wetzel

2012 Realismo Maternal (in Arbeit)
2011 El año del tigre (35 mm, 82 ’)
2009 Navidad (35 mm, 104 ’)
2006 La Sagrada Familia (35 mm, 135’)

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