Litauen, Literatur, 2006

Eugenijus
Ališanka

Eugenijus Ališanka wurde 1960 in Barnaul/Sibirien, Russland, geboren, wohin seine Eltern verbannt waren. Er wuchs in Vilnius, Litauen, auf, wo er auch heute lebt. Nach dem Studium der Mathematik veröffentlichte er seit 1991 vier Gedichtbände und zwei Bücher mit Essays, zudem übersetzte er Gedichte von Zbigniew Herbert und Wislawa Szymborska aus dem Polnischen sowie von Aleš Debeljak aus dem Slowenischen. Ališanka leitete ein Literaturfestival in Litauen und ist seit 2003 Chefredakteur der Vilnius Review, einer Zeitschrift, die zeitgenössische litauische Literatur in englischer Übersetzung präsentiert.

Er ist einer der wichtigsten litauischen Lyriker der jüngeren Generation – zudem ein großer Reisender, ein poet on the road, der in seinen „ungeschriebenen geschichten“ den europäischen Raum durchstreift und den Leser mitnimmt auf seine tour d’Europe: die Grande Place in Brüssel taucht in seinen Gedichten auf mit Horden besoffener Fußballfans, die Wasser der Seine mit ihren faltigen kleinen Wellen oder das Hotel Rossija in Moskau, das Sehnsucht weckt nach wüsten Gelagen. Eine Landkarte der Sinne ist es, die den Dichter durch den Kontinent leitet und ihn eintreten lässt in ein – selbstironisches – Nachdenken über seine Situation als litauischer Reisender („ein nachfahre von barbaren mit langen vom / wind zerzausten haaren europa erobernd“) und als Schreibender in der heutigen Zeit: „ich würde ein gedicht verkaufen mit sämtlichen ersatzteilen / europas älteste sprache wenig getragen / einen frack des autors second hand / die taschen voller tabakkrümel / wenn auch halb geschenkt nur für eine flasche rotwein / aus der gegend von bordeaux (…) ich tue alles um nur nicht / schreiben zu müssen füttere die tauben fahre mit dem zug / mit jedem tag gelingt es mir besser / ich würde das letzte gedicht verkaufen mit sämtlichen / ersatzteilen und dann zurück in den wald.“

Von hier aus geht es hinaus auf die Bretter der europäischen Kultur und Literatur und hinein in die Schichten der europäischen Geschichte, die mit einem metaphorischen Inventar von der griechisch-römischen Antike bis nach Tschernobyl ausgekleidet ist und auf deren Bühne die Figuren eher wie Statisten im Pulk von den Ereignissen übermannt werden, als dass ihnen die Rolle von Akteuren zukäme: „in der bartholomäusnacht versteckte / ich mich in einem heuhaufen / ich war nicht anderen glaubens hatte keine meinung / solche sind eindeutig die schlimmsten / weder auf gottes gnade können sie zählen / noch sich das seelenheil erkaufen / meist kümmern sie sich um die wirtschaft / füttern das vieh oder sie arbeiten in der / schreibstube kleben briefe mit der zunge zu“. Neben der „großen Geschichte“ steht die „petite histoire“, die mit ihren vielen Mosaiksteinchen am Ende auch ein Leben ausmacht: „immer mehr interessieren mich kleinigkeiten / eine durchgewetzte tasche ein weinfleck auf dem kragen / durchlöcherte strümpfe haare in der nase alles hier / ist meine geschichte mein sibirien und amerika / meine reise auf den marsfeldern / durch die cafés von vilnius / über die dächer der dzerzinskij-straße / la petite histoire ein kleines nervenlabyrinth“

Und noch eine vertikale Ebene findet sich in den Gedichten von Eugenijus Ališanka – die Ungleichzeitigkeit der Zeit im heutigen Mitteleuropa, die mitunter in einem einzigen litauischen Dorf zusammentrifft: „der sommer geht zu ende um acht dämmert es bereits / die hunde kommunizieren mit dem stimmentelefon / nachts ist die verbindung besser die entferntesten nachbarn / kläffen über frauen knochen den wieder besoffenen mischa / der an einem gemüsebeet entlangschwankt / omnitel gibt bei vollmond vergünstigungen …“

aus ungeschriebenen geschichten.
Gedichte in zwei Sprachen. litauisch – deutsch. Übertragen und mit einem Nachwort versehen von Klaus Berthel. DuMont, Köln 2005

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