Malaysia, Literatur, 2024, in Berlin

Tash
Aw

Photo: Diana Pfammatter

Es gibt SchriftstellerInnen, die einem etwas Neues über die Welt erzählen, und es gibt SchriftstellerInnen, die die vertraute Welt aufgreifen und die Perspektive sachte verschieben, sodass sich alles, was man von diesem Moment an sieht, grundlegend verändert. Tash Aw zählt zur zweiten Kategorie. Bereits bei seinem ersten Roman, The Harmony Silk Factory (2005, dt. Die Seidenmanufaktur „Zur schönen Harmonie“, 2006), zeichnete er sich als Autor aus, der jedwedes Genre – im Fall seines Debüts ein historischer Roman über einen Ort, mit dem die meisten westlichen LeserInnen nicht vertraut sind – auf raffinierte Weise zu unterwandern versteht. 

The Harmony Silk Factory spielt im Malaya der 1940er Jahre, dem heutigen Malaysia, und handelt vordergründig von der japanischen Invasion der Halbinsel. Durch den Einsatz unterschiedlicher – über Kreuz liegender – Perspektiven sowie einen Antihelden, dessen Charakter immer wieder neu und anders skizziert wird, entstand ein Roman über changierende Erinnerungen und die Unmöglichkeit, andere Menschen zu ergründen. Das Buch wurde begeistert von der Kritik aufgenommen und 2005 mit dem Whitbread Book Award für Debütromane ausgezeichnet. 

Darauf folgten Map of the Invisible World (2009, dt. Atlas der unsichtbaren Welt, 2022), ein Roman über die Revolution, eine verlorene Kindheit und die Suche nach Identität, sowie Five Star Billionaire (2013), eine energiegeladene, vielstimmige Tour de Force, die ihm eine zweite Nominierung für den Booker Prize einbrachte. Tashs Interesse gilt durchgängig den vertrackten Fragen der Identität: Wie wird das individuelle wie kollektive Selbst konstruiert – sei es durch äußerliche, historische Kräfte, sei es durch intime Familienbeziehungen? 

Alle seine Romane durchzieht eine radikale antikoloniale Rebellion, wobei sich Tash dem westlichen Blick konsequent widersetzt. So handelt Five Star Billionaire von nach China eingewanderten, asiatischen MigrantInnen, und in seinem vierten Roman, We, The Survivors (2019, dt. Wir, die Überlebenden, 2022), untersucht er rassifizierte und soziale Ungleichheit aus der Perspektive der Arbeiterklasse in Malaysia. 

Tash deckt in seinen Werken, die ein reiches, vielseitiges Wissen unter Beweis stellen, eine beeindruckende Bandbreite ab. 2016 veröffentlichte er Strangers on a Pier (dt. Fremde am Pier, 2024). In diesen Memoiren betrachtet er die Themen Migration, Staatsbürgerschaft und generationenübergreifende Traumata durch die Augen seiner eigenen chinesisch-malaysischen Familie. Der schmale Band war Finalist des Los Angeles Times Book Prize und deutete einen raueren, persönlicheren Ton in Tashs Schreiben an.  

2022 übersetzte Tash den vierten Roman des hochgelobten französischen Schriftstellers Édouard Louis, Combats et métamorphoses d’une femme (2018, dt. Die Freiheit einer Frau, 2021) ins Englische – laut New York Times eine Übersetzung mit „unaufdringlichem Fingerspitzengefühl“. Damit ist Tashs Schreibstil der letzten 20 Jahre treffend umrissen: Auch dieser ist unaufdringlich, da der Schriftsteller die Charaktere für sich selbst sprechen lässt und der Versuchung widersteht, seine eigene Autorenstimme durchzusetzen. So gut wie nie tauchen überflüssige Metaphern oder Ausschmückungen auf, es sei denn, Text und Thematik erfordern sie. Gleichzeitig weist sein Stil Fingerspitzengefühl auf, denn es bedarf außerordentlicher Disziplin und stilistischer Raffinesse, die vielschichtigen, komplexen und mitunter zutiefst mysteriösen Geschichten, die knapp unter der Oberfläche lauern, zu erzählen.  

Tash Aw lebt in Kuala Lumpur und Paris. Seine Werke wurden mit zwei Nominierungen für den Booker Prize, dem Commonwealth Writers‘ Prize, dem Whitbread Book Award für Debütromane und dem O. Henry Prize ausgezeichnet. Er ist Fellow der Royal Society of Literature. 

Text: Tahmima Anam 
Übersetzung: Anna Jäger 

Vergangen

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