Ungarn, Literatur, 2006

István
Vörös

István Vörös wurde 1964 in Budapest, Ungarn, geboren, wo er als freier Autor und Übersetzer aus dem Tschechischen lebt. Seit 1988 hat er neun Gedichtbände, drei Prosabücher sowie drei Essaybände veröffentlicht. Sein umfangreiches literarisches Werk wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Attila-József-Preis, dem Hubert-Burda-Preis und dem Kristal-Preis des Vilenica-Literaturfestivals. Seit 1997 ist er Leiter der tschechischen Fakultät der Péter-Pázmány-Universität in Budapest.

Die Gedichte István Vörös‘ setzen häufig mit beiläufigen Szenen ein, scheinbar banalen Alltagsbeobachtungen, die durch eine leichte Wahrnehmungsverschiebung ihre Richtung ändern und Türen in verborgene Welten öffnen oder schicksalhafte Zusammenhänge offenbaren. Im Gedicht „Der Strudel“ aus dem 2004 auf deutsch erschienenen Auswahlband „Die leere Grapefruit“ etwa wird ein Strudelteig beim Auswalken immer durchscheinender, bis auf ihm ein Schlüsselmoment aus dem Leben der Großmutter sichtbar wird: „Der Teig spannt sich, / wird durchsichtig wie ein Pergament, eine Schrift erscheint / darauf. Briefe eines längst vergessenen Mannes.“ Der Absender der Briefe und die Großmutter verpassten einander, und die Familiengeschichte konnte den Lauf nehmen, der im Nachhinein als der einzig mögliche erscheint.

Immer wieder finden sich bei István Vörös ungeahnte Räume und Zeitschichten, die sich mitten im Alltag auftun – Häuser auf Gänsefüßen und rasende Erddrachen-Metros in New York, ein Tier mit spitzen Zehen, das einem aus dem Spiegel entgegenschaut und einem mit seinem Steinzeit-Gebaren einen Schrecken einjagt, wildfremde Menschen, die zu einem nach Hause zurückkommen, so dass auf einmal die Gewissheit fehlt, dass wirklich diejenigen wiederkehren, die weggehen – und zeigen, dass es wie bei Alice nur ein Schritt ist vom modernen Leben in die parallele Welt der Märchen und Mahre gleich hinter der nächsten Ecke.

Ein weiteres Thema sind die politischen Veränderungen der letzten Jahre, etwa in dem Gedicht „Die leere Grapefruit“ über die Zeit, in der es in den Ländern des Ostblocks schon gärt: „Das Werk der Fäulnis konnte / ich einfach nicht verstehen. / Auf dem Heizkörper lag die halbe / Grapefruit, leer, trocken und hart. Schon / gut so. Ich habe sie mit Wasser gefüllt – / dann trocknete sie wieder. In Ordnung. / Doch das zweite mal weich geworden, / verlor sie die Form und war schwarz / gebrannt. Stinkend löste sie sich auf, / ihre Gegenwart war der elende Geruch im Zimmer. (…)“ Was folgt, sind Reisen – in die Neue Welt – und ein Nachdenken über den Begriff der Freiheit, vor allem über die Frage, wann ein Zuviel an Freiheit in Relativismus umschlägt, z. B. im Gedicht „Briefe nach Amerika“: „Diesen Grad an Freiheit kann / man, glaube ich, sinnvoll / nicht anders nutzen / als im Zimmer zu bleiben. / Niemand fragt, ob ich überhaupt / schlafe, sie fragen nicht, ob mein Blut / dünn oder dick sei. Diesen Grad an / Freiheit erträgt man nur mit dem / zweifachen Zeitbruch. Hier ist es neun / Uhr, zu Hause halb drei. Dort ist schon die / Zukunft gelandet. Die Briefe bringen / zwei, drei Wochen alte Nachrichten / und sind, wenn sie mich erreichen, überholt. (…)“

Die leere Grapefruit.
Translated from the Hungarian by Zsuzsanna Gahse. Edition Korrespondenzen, Vienna, 2004

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