Alan
Pauls
„Was ist ›gelebte Erfahrung‹, wenn nicht streitbare Spuren und Fantasien, verkehrte Erinnerungen, Leerstellen, die wir auffüllen mit realistischen oder fabelhaften Geschichten?“, fragt der Roman- und Drehbuchautor, Essayist und Kritiker Alan Pauls. Pauls wurde 1959 in Buenos Aires geboren, studierte Literaturwissenschaften und lehrte später an der Universität. Er ist Gründer der Zeitschrift Lecturas críticas und arbeitete als Redakteur für die Tageszeitung Página/12 sowie als Übersetzer. Pauls war an der Entstehung mehrerer Drehbücher beteiligt und entwickelte mit der Choreografin Mathilde Monnier jüngst das Tanztheaterstück El Baile.
„Ich habe nie einen Unterschied gesehen zwischen persönlichem Erleben und literarischer Fiktion“, so Pauls. Vielleicht ist dies auch der Grund dafür, dass er Romane schreibt, die zu bestimmen versuchen, wo genau „sich das Leben ereignet“. Um es mit den Worten des Erzählers aus seinem Roman Geschichte des Geldes (dt. 2013) zu sagen: Pauls „steckt wie ein Landvermesser die Grenzen ab – oder deckt vielmehr die unsichtbar schon existierenden Grenzen auf –, die zwischen den Trugbildern des Lebens und dem echten Leben, zwischen Farce und Erfahrung, den Maskierungen und der nackten Wahrheit verlaufen“.
Pauls‘ wichtigstes Instrument ist der Satz. Ihn stellt der Autor über die Handlung und die Figuren, auch wenn sich Letztere durch Ersteren vermitteln. „In literarischen Texten ist jeder Satz eine Welt für sich“, sagt Pauls. Seine Sätze erstrecken sich über ganze Absätze und Seiten, in Form kunstvoller Beschreibungen und philosophisch mäandernder Betrachtungen, die dem Rätsel der Zeit und der Erinnerung auf den Grund gehen. Pauls will Sätze schreiben, „in denen man leben, schwimmen, atmen, halluzinieren, in die man sich versenken, in denen man einschlafen, rennen, Angst haben kann usw.“ Seine Sätze vibrieren, sie lassen sich reiten wie Wellen, und manchmal muss man sie unter großen Kraftanstrengungen und ganzem Körpereinsatz durchschwimmen – gegen die Strömung.
Der internationale Durchbruch gelang Pauls mit seinem vielfach übersetzten und in Hollywood verfilmten Roman El pasado (dt. Die Vergangenheit, 2009). Der Text entstand aus Pauls‘ Interesse für „das Verliebtsein als Erfahrung einer Verstörung, als Zustand der Haltlosigkeit, sogar des Krankseins“. Es folgten Geschichte der Tränen (dt. 2010), Geschichte der Haare (dt. 2012) und Geschichte des Geldes (dt. 2016). Was die drei titelgebenden Dinge miteinander verbindet, so Pauls, sei ihm erst sehr viel später aufgefallen: ihre Neigung verlorenzugehen. In der Trilogie beschäftigt sich Pauls auf unmissverständliche und ungewöhnliche Weise mit der Geschichte Argentiniens. „Ich interessiere mich für Politik“, hat Pauls einmal gesagt, „so sehr sogar, dass ich mich zwanzig Jahre lang für unfähig gehalten habe, etwas zu schreiben, das die Politik in meinem Land thematisiert.“
Alle drei Romane schildern die politisch turbulenten siebziger Jahre in Argentinien und deren Auswirkungen auf die Gegenwart. In Geschichte des Geldes fragt Pauls vor dem Hintergrund einer Familientragödie danach, was Geld seinem Wesen nach ausmacht. Das Hoffen und Ringen der Familie in Zeiten der Inflation erfordert eine ständige Neu- und Umbewertung dessen, was man für das Leben aufzubringen bereit ist. Alles scheint in den Augen des Erzählers „das Signal Reichtum auszusenden, schwerreichen Reichtum, Reichtum von der direkten, unmittelbaren Art“, doch weder kann er diese Signale lesen noch weiß er, worin wahre, bleibende Werte bestehen.
Mit jedem seiner Projekte ist Pauls bemüht, „das einzige zu tun, was das Leben wahrhaftig macht: die Stirn zu haben, alles in Frage zu stellen“.
Text: Priya Basil
Übersetzung: Gregor Runge