Albertina
Carri
In einer Welt und einem Medium (dem Kino), die von erhöhtem Druck, Unsicherheit und der Notwendigkeit geprägt sind, Interessen, Formen und Sprachen immer neu zu verhandeln, verfolgt Albertina Carri ein klares Ziel: das zu tun, was ihr wichtig ist. Schon 2003 hatte sie dies mit Los rubios bewiesen, dem Film, der ihren künstlerischen Ansatz in voller Schärfe zum Ausdruck brachte. Es ist ein mehr als außergewöhnlicher Dokumentarfilm, in dessen Zentrum eine Animationsszene steht, die mit Playmobilfiguren die Verschleppung ihrer Eltern durch Außerirdische rekonstruiert – sie zählen zu den „Verschwundenen“ der Militärdiktatur von 1976. Ein vergleichbar provokanter Durchbruch findet sich im gesamten argentinischen Gegenwartskino nicht. Los rubios riss die Wunden des Staatsterrorismus wieder auf und hakte gerade bei den Themen der progressiven postdiktatorischen Agenda nach, die als unumstritten galten: die Pflicht zur Erinnerung, das Vermächtnis der 1970er Jahre, die „Schuld“ einer ganzen Generation gegenüber dem revolutionären Traum, der sie verwaist zurückließ. Impulsiv und aus ihrer ganz eigenen Warte fegte Carri die Figuren vom Spielbrett, ohne einen Unterschied zu machen, ob sie nun andere verletzte oder sich selbst. All ihre späteren Arbeiten – Filme, Fernsehserien, Videoinstallationen, Theatererfahrungen, selbst institutionalisierte Interventionen wie Asterisco (das erste LGBTIQ-Kinofestival Argentiniens, dessen Gründerin sie war) – stehen im Zeichen dieses Anspruchs zu verstören.
Vielleicht ist das die einzige Konstante in einem vielfältigen, stets aktuellen Werk zwischen Spiel- und Dokumentarfilm, das gnadenlos Genre und Thema wechselt, das von der klassischen Erzählweise zum radikalen Experiment springt, aus dem Kinosaal ins Theater und in die Galerie, von der Tragödie zur Euphorie, mit dem Enthusiasmus und der Neugier eines Menschen, der bereit ist alles auszutesten. Carri hat Spielfilme über Inzest (Géminis), Gewalt auf dem Land (La rabia) und über die emanzipatorische Energie lesbischen Begehrens (Las hijas del diablo) gedreht. Sie hat mit Melodram, investigativem Dokumentarfilm, Trickfilm und Frauenporno gearbeitet. Sie hat Filmkunst, Fernsehen, Agitprop gemacht. Formen, Mittel, Medien sind für sie keine Heiligen Kühe; es sind Gelegenheiten, unangenehm zu werden.
Carri steht für eine hochexplosive Spannung in der politischen Kultur des heutigen Argentiniens: auf der einen Seite die durch die diktatorische Gewalt der 1970er Jahre gewissermaßen eingefrorene Militanz der klassischen Linken, auf der anderen die im Feuer des Feminismus und der Queer-Bewegungen aufflammende Identitätspolitik. Doch Carri verkörpert diese Spannung weder naiv noch gewissenhaft, sondern mit der unverfälschten Überzeugung einer Person, die weniger daran interessiert ist Wissen anzuhäufen, als zu entdecken, wohin sie die Kräfte treiben, die in ihr lodern. Carri – her majesty the troublemaker – wendet einen Trick an, der so einfach wie grandios ist: Sie überkreuzt Bestimmungen und Begierden. Alles, was aus ihr ein Opfer machen würde, verwandelt Carri in ein Objekt, das Interesse, Wünsche, ein fast laszives Verlangen hervorruft. Nichts anderem als ihrem Begehren gehorcht sie, ganz gleich, ob dieses Kreuz – das einzige, das sie stolz trägt – sie an einen Ort führt, an dem sie gar nicht sein will, ob es Probleme schafft oder sie dazu verleitet, einen Fehler oder gar einen Verrat zu begehen. Die Liste der Dinge, die sie hasst, mag lang sein. Doch sie lässt sich auf einen Punkt reduzieren: wohlfeile Harmonie. Die, die ihr folgen, fürchten sie. Die, die sie gestern noch hassten, können sie heute schon verehren. Die, die sie heute hassen, werden ihr morgen folgen. Die, die sie immer gehasst haben, hadern weiter heimlich mit ihr. Selbst noch in den kritischsten Momenten, wenn Carri sich in eine Sackgasse verrennt oder ihrem eigenen Ehrgeiz erliegt, brennt ihr Kino, sucht den Konflikt und strahlt inmitten von Überdruss, Konformismus, Verzweiflung hell wie eine Leuchtrakete, die anzeigt, wo man ist, was zu tun ist, auf wen man jetzt einschlagen muss, in welche Richtung man fliehen soll.
Text: Alan Pauls
Übersetzung: Timo Berger