John
Cage
John Cage (geb. 1912 in Los Angeles, gest. 1992 in New York) nahm das Stipendium des Berliner Künstlerprogramms des DAAD (BKP) im Rahmen einer ausgiebigen Europatournee wahr, die ihn mit seinem Lebenspartner, dem Choreografen und Tänzer Merce Cunningham und dessen Dance Company 1972 durch ganz Europa führte. Cage befand sich überdies wegen diverser Projekte ganzjährig auf Reisen zwischen den Metropolen Amerikas und Europas; im September war er beim iranischen Shiraz-Festival eingeladen. Nur sporadisch hielt er sich in Berlin auf: In der Galerie Kleber fand im Januar anlässlich seines 60. Geburtstages in Zusammenarbeit mit dem BKP eine umfangreiche Retrospektive zu Cages Schaffen statt, inklusive einer mehrtägigen Konzertreihe mit Stücken in kleinerer Besetzung. Im Juli desselben Jahres nahm Cage an der „Woche der Avantgardistischen Musik Berlin: Spiel, Klang, Elektronik, Licht“ teil, organisiert von Walter Bachauer, den Berliner Festspielen und dem BKP. Zusammen mit David Tudor führte er dort am 11. Juli im Studio der Akademie der Künste Mureau für Stimme und Tape (1970) auf. Aber auch als Interpret trat Cage in Erscheinung: Mit Cornelius Cardew (Fellow 1973), Morton Feldman (Fellow 1971), Frederic Rzewski (Fellow 1963) und David Tudor spielte er die Uraufführung von Morton Feldmans Five Pianos (Pianos and Voices) am 16. Juli im Großen Sendesaal des Senders Freies Berlin; außerdem übernahmen David Tudor, Frederic Rzewski, Cornelius Cardew und Antoinette Vischer die Cembalo-Parts in der Realisierung von Cages multimedialem HPSCHD (1967–1969) am 18. Juli in der Berliner Philharmonie.
Zu Beginn der 1970er Jahre begannen die interdisziplinären und konzeptuellen Aspekte von Cages Ästhetik über das rein Klangliche hinaus immer größere Bedeutung zu gewinnen, was sich nicht zuletzt in einer intensiven experimentellen Textproduktion äußerte (Mesostics), die Cages Ideenwelt mit spielerischer Abstraktion transportiert und verschiedentlich von seiner professionellen Leidenschaft für die Mykologie durchdrungen ist. Im Bewusstsein, dass Kunst und Musik Teil einer revolutionären Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse sein können, wurden Fragen der Gesellschaft und Ökologie für Cage immer relevanter und hinterließen ihre Spuren auch in seinen klanglichen Konzeptionen. Sie reflektierten per Tape, Elektronik und happeningartigen Aufführungskonstellationen zunehmend außermusikalische Realität als Material.
Das zentrale Werk, an dem Cage 1972 arbeitete, war die Tonbandkomposition Birdcage (1972) für 12 Tonbänder und PerformerInnen, in dessen Aufführungsraum sich nicht nur das Publikum, sondern auch Vögel frei umherbewegen sollten! Im Vorfeld hatte Cage Vogelstimmen in Käfigen und Volieren aufgenommen; die Bandaufnahmen beginnen mit der Konversation mit einem Papagei. Die Partitur, deren Abläufe von Zufallsprozessen gelenkt werden, koordinierte Vogelgesang, Alltagsgeräusche, elektronische Klänge und Cages vokale Darbietung seines Mureau nach Texten des von ihm verehrten Henry David Thoreau.
Hans G. Helms’ gleichnamiger Film, Birdcage – 73’20.958’’ for a Composer (1972), am 21. Oktober 1972 in Anwesenheit des Komponisten in Donaueschingen präsentiert, dokumentiert die Entstehungsgeschichte des Werks und vermittelt einen Einblick in die Ästhetik und Geisteswelt von John Cage zu jener Zeit.
Text: Dirk Wieschollek