Singapur, Literatur, 2023

Amanda
Lee Koe

Foto: Jasper Kettner

In einer von Amanda Lee Koes oft so beißend traurigen und immer originellen Erzählungen steht: „Einsamkeit ist Freiheit.“ Es ist der letzte Satz dieser Geschichte, sie heißt Liebe ist keine große Wahrheit, und darin berichtet eine Frau von ihrer trostlosen Ehe – eine Frau, die von der Welt nichts weiß, höchstens aus den Lieblingsfilmen ihrer DVD-Boxen, jeden Tag staubt sie die Schachteln ihrer Sammlung ab. Wenn Einsamkeit Freiheit sein soll, so ist dies natürlich eine traurige Erkenntnis. In den Geschichten von Amanda Lee Koe, Jahrgang 1988, ist die Einsamkeit oft auch eine Erlösung, eine Befreiung für ihre Figuren, die in kleinen Zwischenreichen der Metropole Singapur leben, abseits der grell beleuchteten himmelhohen Glaslandschaften und Neonröhrenwelten, jenseits des offiziellen Bilds, das das Land von sich zeichnet. Geschichten vom Rand und aus den Schatten, die meistens auch Liebesgeschichten sind.

Als Lee Koes Shortstory-Band Ministry of Moral Panic 2013 erschien (dt. Ministerium für öffentliche Erregung, übers. von Zoë Beck, CulturBooks, 2016), trat einem plötzlich ein anderes literarisches Singapur entgegen. Es ist eine Stadt der AußenseiterInnen, in ihr wohnen Hexen, entstellte Frauen, kranke Volkssänger, Transsexuelle, Geflohene, lebendige Glückskatzen und mythische Fischwesen; Menschen verschiedener Religionen und Ethnien, in Waschsalons und Edward-Hopper-haften Bars. Lee Koes Geschichten handeln davon, wie sich eine Frau nichts sehnlicher wünscht, als dass ein Mann sie mit einem Ring im Wert von 99 Cent heiratet. Davon, wie man singt, wenn man tote Knoten im Herzen hat. Für ihre Geschichten erhielt sie 2014 den Singapore Literature Prize, als jüngste Preisträgerin überhaupt. Da war sie 26. Trotz der Melancholie bewahren diese Storys in ihren Konstellationen und Erzählperspektiven eine sanfte Komik, eine Freude an der Überraschung, an der Rasanz, am Unvorhergesehenen.

Auch in ihrem Debütroman Delayed Rays of a Star (2019, dt. Die letzten Strahlen eines Sterns, übers. von Zoë Beck, CulturBooks, 2022), einer Episodengeschichte aus verschiedenen Epochen Hollywoods, zeigt sich Amanda Lee Koe, die heute in New York lebt, als gewitzte, lakonische Autorin. Die Hauptrollen spielen Marlene Dietrich, Leni Riefenstahl und Anna May Wong, die verschiedenen Figuren ihrer Zeit begegnen. Zum einen ist dieses Buch eine verspielte, doch glaubwürdige Form des historischen Romans, exzellent recherchiert, zum anderen entfaltet Lee Koe darin eine Geschichte der Ausbeutung, der Unterdrückung und Diskriminierung und den moralischen Verstrickungen in Täterschaft, subtil, ohne dass ihre Figuren lediglich zu Illustrationen dieser Themen werden. Amanda Lee Koes erzählerisches Temperament ist ein besonderes. Und dass diese Autorin nun in Berlin ihre Arbeit weiter vertiefen kann, ist auch für die jüngere, globale Gegenwartsliteratur ein großes Glück.

Text: David Hugendick

Vergangen

zum Seitenanfang