Anup Mathew
Thomas
Seit 2006 sucht Anup Mathew Thomas die Motive für seine Bilder in den Lebensrealitäten der Menschen im indischen Bundesstaat Kerala. Sie erzählen von Ereignissen, die er über viele Jahre hinweg untersuchte, und von Geschichten, die ihm Menschen berichteten, die er bereits kannte oder die er bei seinen Recherchen kennenlernte. Diese Ereignisse und Geschichten werden durch Bilder von Orten dargestellt, an denen sie sich zugetragen oder zu denen sie einen Bezug haben. Seine Bilder erinnern uns daran, was es bedeutet, Mensch zu sein – die Vergänglichkeit des Lebens, die Ängste vor Macht – und deren Einfluss auf Familien und Gemeinschaften.
Für die Arbeit Nurses (2014) machte Thomas achtundvierzig Frauen aus Kerala ausfindig, die in siebzehn Ländern weltweit als Krankenpflegerinnen arbeiten. Krankenpflegerinnen aus diesem Bundesstaat gelten als hochqualifiziert und haben bessere Chancen, auswandern zu können. Die Portraits, auf denen die Krankenpflegerinnen vor dem Hintergrund von natürlichen Landschaften dieser Länder abgebildet sind, vermitteln sowohl ein Gefühl des Verwurzeltseins als auch der Entwurzelung. In der Reihe Scene from a Wake (2016) sehen wir, wie das Selbstempfinden, das soziale Bewusstsein und auch die eigene lokale Sprache von globalen Einflüssen geprägt wird, wie beispielsweise das aus den 1970er Jahren stammende Bild einer Madonnafigur aus Rosenholz des indischen Künstlers Jyoti Sahi. Sahi schuf die Skulptur nach den Fischerleuten aus der Küstenstadt Marianad in Kerala – wie Thomas in einem Text erläutert–, was von der Gemeinde der Gesellschaft des Katholischen Apostolats in Kerala (für die sie geschaffen wurde) abgelehnt wurde: die Skulptur sei „zu dunkel und hässlich“, um die Mutter Jesu Christi korrekt darzustellen.
Menschlichkeit wird in Thomas‘ Bildern nicht als eine universelle Vorstellung vermittelt. Es handelt sich vielmehr um einen individuellen Zustand des Seins und des Bewusstseins, der von den materiellen und sozialen Bedingungen der Umwelt geprägt ist. In dem er diese Dynamik hervorhebt, ermöglicht er den Betrachtenden, sich in die Abgebildeten hineinzuversetzen. Mehrere Arbeiten zeugen von der Bedeutung der Zufälligkeit – was in der rechercheorientierten Fotografie häufig übersehen wird –, in dem sie Momente des Zufalls innerhalb langfristiger Phänomene festhalten. Infolgedessen wird „der Ort zum natürlichen Hintergrund und nicht zu einem geografischen ‚Anderswo‘“, um die Jury des Han Nefkens Foundation⎯BACC Award for Contemporary Art zu zitieren, die Thomas 2015 auszeichnete.
Thomas‘ kritische Überlegungen zum Bildermachen sind in diese Ansätze eingebettet. In Hereinafter (2012) wird das Paradoxon der Kamera – die gleichermaßen die Anwesenheit wie die Abwesenheit ihres Gegenstands beleuchtet –, in Bildern vom „Leben“ rund um den Tod und die Bestattungsriten in Kerala aufgegriffen. In den Begleittexten zu seinen Bildern wirft Thomas Fragen nach der Beziehung zwischen Bild und Text auf. In ihrer Uneindeutigkeit handelt es sich bei den Texten weniger um Beschreibungen als um Hochrechnungen, die die Kontexte und Phänomene im Zusammenhang mit den Motiven seiner Bilder hervorheben. Die Verlässlichkeit des Texts als Träger von erzählerischer Wahrheit wird durch die physischen und kontextuellen Lücken zwischen seinen Bildern und Texten hinterfragt (früher zeigte er seine Texte beispielsweise als gerahmte Arbeiten). Was Thomas unter den zeitgenössischen FotografInnen auszeichnet, ist die Sorgfalt, mit der er den fotografierten Menschen seine Absichten hinter den Werken erklärt, da er ihre Beteiligung als entscheidendes Element für die Integrität seiner Bilder betrachtet.
Text: Melanie Pocock
Übersetzung: Anna Jäger