Boris
Filanovsky
„Ich glaube, dass angesichts des hoffnungslosen Leids alle Worte über die erhebende Wirkung der Kunst Heuchelei sind. Nur ein dokumentarischer Ansatz kann ehrlich sein, aber auch er ist ohne Formalismus undenkbar.“
Diese Sätze Boris Filanovskys (geb. 1968) zur deutschen Erstaufführung seiner 2006 komponierten, musikalisch bestürzenden Komposition „bsdnm – hmlss – bdchls“ (obdachlos) für Stimme, Streichtrio und Akkordeon während der MärzMusik 2009 (uraufgeführt im Dezember 2007 im Rahmen einer Wohltätigkeitsveranstal-tung in St. Petersburg) könnten Kernsätze seiner Kompositionsästhetik sein – wenn diese überhaupt auf einen Kern zu fokussieren ist. Denn kompositionstechnisch zeichnet sich sein Schaffen durch eine vielfältige Nutzung des reichen Fundus der Avantgarde des 20. Jahrhunderts aus: serielle Technik und offene Formen, Methoden der musique concrète instrumental, experimentelle Vokal- und Atemtechniken, Unbestimmtheit, Arbeit mit Mikrointervallen oder mit Maschinen als Klangkörper (z. B. „Voicitiy“ für Baumaschinen, Schützenpanzer, Jeeps, Sirenen, 1 Sopran und 4 Bläser, 2011 für das TRANSART-Festival in Bozen). Typisch für Filanovskys Kompositionsästhetik sind das Ignorieren der Werkidee und der Verzicht auf die Kontrolle des klanglichen Endresultats einer Komposition, weil im Zentrum des Komponierens Prozesse der Klangerzeugung oder die Aufführungssituation stehen. Das hat musikalisch-inhaltliche Konsequenzen, denn damit werden Fehler, Vergeblichkeit und Scheitern thematisiert (z.B. in „We Can’t Perform It“ (2006) für Flöte, Klarinette, Violine, Cello, Klavier). Ebenso typisch sind Mehrdeutigkeit, Ironie und eine Kontextualisierung durch die Neuinterpretation musikalischer Konventionen wie etwa in der „Seemphony“ (2010).
Zu den zentralen Schaffensprinzipien Filanovskys gehört es, „in jedem Werk ein anderer zu sein.“ Und dennoch ist er in jeder Komposition unüberhörbar er selbst: durch einen Klangrealismus, der soziale, menschliche oder musikalische Inhalte kritisch reflektiert. Dieser basiert auf Methoden der Dekonstruktion und Negation als Ausgangspunkt für klangliche Innovation. Diese Kompositionsästhetik korrespondiert mit seiner Überzeugung, dass der wichtigste Impuls für Kreativität darin besteht, Grenzen zu erkennen und diese zu überwinden . In diesem Sinne engagiert sich Filanovsky unter den schwierigen postsowjetischen Bedingungen auch kulturell: Seit 2000 setzt er als künstlerischer Leiter des eNsemble (am Pro Arte Institut St. Petersburg) wesentliche Akzente in der St. Petersburger Szene neuer Musik (etwa seit 2003 mit dem russlandweit berühmten Festival „Phytische Spiele“). Als Mitinitiator und Mitglied der 2005 gegründeten „Structural Resistance Group“, ein in Russland einflussreiches Bündnis junger russischer Komponisten, setzt er sich für die Überwindung eines in Russland herrschenden, eschatologischen Konservativismus und für individuelle Selbstbestimmung der jungen Künstlergenerationen ein.
Text: Gisela Nauck