Simbabwe, Literatur, 2011

Chirikure
Chirikure

Simbabwes berühmtester Dichter und Performer kam 1962 in Gutu zur Welt. In dieser ländlichen Gegend lernte Chirikure, Sprössling einer Familie christlicher Lehrer, neben den biblischen Geschichten und Kirchenpredigten auch den Ahnenkult seines Volkes – der Shona ? und das von Tanz und Gesang rhythmisierte Leben in einer traditionellen Dorfgemeinschaft kennen. 1980, unmittelbar nach der Unabhängigkeit, als Shona wieder zur offiziellen Landessprache wurde, begann er Gedichte in dieser Sprache zu verfassen und öffentlich vorzutragen. Mit Aufnahme seines Religions-, Literatur- und Geschichtsstudiums an der University of Zimbabwe in der Hauptstadt Harare geriet der junge Dichter dann in ein urbanes Umfeld, das ihm neue Impulse gab.


Aller materiellen Armut zum Trotz existiert in Simbabwe, insbesondere in Harare, eine höchst lebendige kulturelle Szene, in der die Künstler einen spartenübergreifenden Austausch pflegen. Chirikure verbindet in seiner Arbeit Poesie, Musik und Theater, er gilt als einzigartig, weil er die – stilistisch vielfältige – orale Tradition mit der Schriftkultur verknüpft. Tatsächlich entsteht jedes Gedicht, das er meistens im Vorfeld auf Papier verfasst, beim Vortrag neu, bekommt durch Tonfall, Mimik, Gestik und wechselnde Akzentuierung eine dramatische Dimension. Oft wird er von der Mbira begleitet, dem traditionellen Instrument der Shona, das im religiösen Ritus zur Herbeiführung der Trance dient. Für Chirikure ist Poesie Bewegung, sie kennt keine Grenzen, fasst auf jedem Gelände Fuß. Dem Wort kommt eine ungeheure Bedeutung zu: „Kaum etwas ist so flexibel wie das Wort. Sie können es sprechen, murmeln, flüstern, singen, schreien, Sie können es sogar husten. Und wir Menschen haben das tiefe Bedürfnis, miteinander zu sprechen, uns zu verständigen, indem wir einander alles Mögliche zuwispern. Wir haben das Bedürfnis, unsere Fehler wiederzukäuen und schallend darüber zu lachen, um in Zukunft klarer zu sehen. Wir haben das Bedürfnis, lauthals zu singen, ja sogar zu brüllen, um der Welt mit Stolz und Würde zu begegnen, auf dass sie lernt, uns zu respektieren. Uns Afrikaner mit unserem Erbe. Wenn wir das Wort nicht weitertragen, werden wir bis ins Grab höchstens ein Hüsteln hervorbringen.“
Dass Chirikure, der auch fließend Englisch spricht, konsequent auf Shona schreibt, völlig unbeeinflusst vom Kanon der einstigen Kolonialmacht, obwohl in ganz Afrika viele Dichter und Schriftsteller Englisch oder Französisch verwenden, hängt mit seiner dezidiert politischen Haltung zusammen, seiner Sicht der Landesgeschichte und des Umgangs mit dem kulturellen Erbe. Er beschwört den alten, präkolonialen Gemeinschaftssinn, um den Traum der Unabhängigkeit visionär zu vollenden – sie wurde um den Preis unzähliger Menschenleben errungen, doch seither herrschen statt Gerechtigkeit Gier, Korruption und Diktatur, wird das Volk nicht geeint, sondern gespalten. Und so erklingen in manchen von Chirikures Gedichten viele verschiedene Stimmen, wie in „Yakarwiwa nesu“ („Gekämpft haben wir“, aus dem Band Hakurarwi/Wir werden nicht ruhen, 1998), wo alle erdenklichen Gruppierungen den Sieg im Unabhängigkeitskrieg für sich reklamieren, die Studenten in Übersee, die Gelder sammelten und die internationale Staatengemeinschaft einschalteten, die Freiheitskämpfer, die sich jeder Gefahr und Mühsal aussetzten, die Boten und Späher und die Lasttiere, die Waffen heranschleppten, die Eltern in den Dorfgemeinden, die ihre kämpfenden Söhne mit Lebensmitteln und Kleidern versorgten und die Ahnen durch Gesang und Gebet günstig stimmten. Am Ende fragt der Dichter, wer unter denjenigen, die den Sieg für sich beanspruchen, denn heute die hungernden Kinder ernähren könne.
In einer Einführung zur zeitgenössischen Poesie Simbabwes schrieb Kizito Z. Muchemwa 2003, dass das lyrische Ich bei Chirikure keine autobiografischen oder egozentrischen Züge trage, sondern einem gemeinschaftlichen Bewusstsein Ausdruck verleihe. Die Botschaft ist oft so unbequem und aufrüttlerisch, dass man auch von einer Stimme des Gewissens sprechen kann, sie will gleichsam eine ganze Gesellschaft dazu bewegen, die gegenwärtigen Missstände zu beheben – und die kulturellen Eigenheiten zu bewahren, die im Gedicht durch shonatypische Klänge symbolisiert werden, durch Ideophone und Alliterationen. Chirikure setzt sich vehement für den Identitätserhalt ein und bezieht sich dabei nicht nur auf seine Heimat, sondern auf den ganzen Kontinent, er lehnt westliche Einflüsse ab, die überall in Afrika zu einer Entfremdung von den eigenen Wurzeln führen.
Wie kraftvoll, wie lebendig diese Wurzeln sind, zeigt sich in seiner Poesie, die selbst in Übersetzung und bei stiller Lektüre durch Bilder von universaler Wirkmacht besticht. Ein Gefühl von Vertrautheit erzeugen bei westlichen Lesern sparsam eingesetzte Bibelverweise (Jesus auf einem Esel, Lazarus – „Steh auf und geh“), die mit dem zuweilen prophetischen Duktus harmonieren und zugleich eine Brücke zur Dorfgemeinschaft schlagen, die häufig den Hintergrund bildet, als Metapher für das ganze Land. Aber auch Stadtbewohner nimmt Chirikure aufs Korn, wie in „First Street, Harare“, wo Geltungssucht und Angeberei mit beißendem Spott gegeißelt werden. Bildern von Krieg, neokolonialer Ausbeutung und Geschichtsvergessenheit stellt er Ausflüge in die mythische Vergangenheit entgegen, wie in „Orte der Fiktion“: „[sie] fragen noch einmal, wo ich schon überall war/ich antworte prompt:/ich war im Land stummer Echos/in den Sanden des uralten Timbuktu/sie schütteln die Köpfe wie Stiere,/und während sie trinken, lachen sie spöttisch:/solche Orte gibt es nur in der Fiktion/ich senke den Kopf/und tröste mein Herz mit labenden Worten:/die Gnade im Herzen gehört mir“ (Übersetzung: Klaus Berr und Chenjerai Hove).
Ein Glück, dass der Dichter seine labenden Worte mit einem weltweit wachsenden Publikum teilt und wir nun auch in Deutschland mehr über Simbabwes literarische Tradition und Gegenwart erfahren können.

Aussicht auf eigene Schatten (Arbeitstitel). Deutsche Fassung: Sylvia Geist. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2011 (in Vorbereitung).
Ausgewählte Gedichte in: Afrika. Neue Rundschau, 120. Jahrgang, Heft 2, Frankfurt am Main 2009. Aus dem Englischen von Klaus Berr. Aus dem Shona von Chenjerai Hove

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