Cristina
Rivera Garza
Das Geheimnisvolle und Obskure in Rivera Garzas Romanen erfasst und umspielt Gender und Genre – Wörter mit einer gemeinsamen Etymologie. In ihrem zweiten Roman, La Cresta de Ilión (Der Beckenkamm), geht der Schauerroman in den Roman noir über, der wiederum in die Fabel, die ihrerseits in der von Nabokov, Calvino und Borges geschätzten Metafiktion gipfelt. Nichts ist mehr eindeutig, schon gar nicht das Verhältnis von Anatomie und Geschlecht. Diese Grenzverschiebung evoziert verschiedene Begriffe, mit denen sich das Werk der Schriftstellerin und Professorin für Hispanistik an der Universität Houston beschreiben lassen: feministisch, queer, trans, posthuman und – wie die MacArthur-Stiftung betont, die ihr 2020 das „genius“-Stipendium verlieh – transnational. Ihr Schreiben verorten zu wollen, scheint genau die Auswege zu versperren, von denen es zehrt. Dennoch helfen diese Begriffe, die politische Dimension ihrer sinnlichen Grenzüberschreitungen und die nationale Geschichte hinter ihrer Ästhetik des Verschwindens zu ergründen. Denn in Mexiko, wo sie geboren wurde, lösen sich Frauen nicht mit geheimnisvoller Anmut im Text auf. Sie werden auf der Straße entführt und in Autos ohne Nummernschilder gezerrt.
Wissen und Berühren: Das sind die Achsen, um die sich Rivera Garzas Literatur mit einer bis zu einem bestimmten Punkt vorhersehbaren Beständigkeit dreht. Doch ihre Unbeirrbarkeit wird durch die Verheißung ihres fragmentierten Formrepertoires, ihrer zeitlosen Formulierungen und ihrer märchenhaften Szenerien ausgeglichen. In ihrem zweiten Erzählband, Ningún Reloj Cuenta Esto (Keine Uhr zählt das), reisen Männer auf der Suche nach Frauen aus ihrer Vergangenheit von einer metaphysischen Ebene zur anderen – von der Traumwelt in den Wachzustand, von der rauen Gegenwart zum Schimmer der Erinnerung. Die Geschichten in ihrem dritten Buch, La Frontera Más Distante (Die entfernteste Grenze), sind als elliptische Varianten von Kriminalromanen gearbeitet, in denen sie die Lesenden, wie sie es nennt, in „eine Aufhebung des Glaubens [in die Fiktion], eine plötzliche Störung der Regeln der Realen“ treibt. DetektivInnen, JournalistInnen und AnthropologInnen reisen verwundert aus einer Stadt in ihre Außenbezirke. Wenn sie in der Wüste, oder in den Bergen, oder in der Taiga ankommen, stellen sie fest, dass Männer Frauen sind, Frauen Bäume und Bäume teils wilde Tiere, teils Schatten sind, die, ohne sich am menschlichen Eindringen zu stören, über den Waldboden kriechen.
Was dämmert ihre Figuren langsam? Zunächst nichts anderes, als dass der Wille zum Wissen stets frustriert wird. Dann stellt sich aber das Vergnügen ein, die Suche aufgeben zu können und sich der Ekstase des Nichtwissens, der reinen körperlichen Empfindung hinzugeben. Die unbändige Energie des sexuellen Begehrens formt die Figuren von Rivera Garza in ihrer Körperlichkeit. In der Tat sind sie weniger Menschen denn freiliegende Nervenenden, die auf übernatürliche Weise auf die Anwesenheit anderer reagieren. In den meisten anderen Bereichen bleiben sie absichtlich unterschiedslos. Im englischsprachigen Sammelband New and Selected Stories finden sich nur wenige Figuren, die einen eigenen Namen tragen. Wenn sie nicht ganz anonym bleiben, dann wurden ihnen Bezeichnungen verliehen wie „Der Fremde“, „Der alte Mann“ oder „Die Frau, die hinter einem Wirbelwind verschwand“. Die Vergabe eines derartigen Beinamens ist ein Taufakt, der die Lüge offenlegt, die allen Beschreibungen innewohnt. Es gibt nichts Natürliches oder Essenzielles an Worten wie „Mann“ oder „Frau“, mit denen Menschen kategorisiert werden.
Wie kann ein Schreiben über sexuelles Erleben gelingen, das zugleich lustvoll und liebevoll ist – einmalig, unwiederholbar, und immer transparent? Der Nimbus der Liebe, ein Wort, das Rivera Garza nicht auszusprechen wagt, schafft eine kleine Insel der Freiheit für ihre Figuren. Ihre Berührung bewahrt sie vor der Vorstellung, dass das Wissen der AnthropologInnen, MedizinerInnen und Regierungen kontrollieren kann, warum wir wen begehren. Sie beflügelt den Geist, sich weit über das hinauszubewegen, was am realsten erscheint. Denn es ist das Schmerzhafteste – Tod, Grausamkeit –, Vergnügen darin zu finden, sich die Beziehung zwischen Menschen in all ihrer Körperlichkeit vorzustellen.
Text: Merve Emre
Übersetzung: Anna Jäger