Russland, Literatur, 2010

Dmitri
Golynko

Als Dmitri Golynko 1969 zur Welt kam, hieß seine Geburtsstadt Leningrad. Heute heißt sie wieder Sankt Petersburg, und als der Dichter debütierte, war die Sowjetunion bereits Vergangenheit. Inzwischen reichert sie als weitere Schicht das Palimpsest dieser Stadt an, die von der Literatur mindestens ebenso geprägt ist wie von der Historie. So ist es wohl nur folgerichtig, wenn im Werk des erst vierzigjährigen Dmitri Golynko verschiedene Epochen und Stile auszumachen sind. Dabei ist der Dichter zugleich Wissenschaftler, der Praktiker in der Theorie bewandert.

Seine Magisterarbeit schrieb er zum Thema „Autor und Protagonisten in der Poetik von Vladimir Nabokov“, und er promovierte über die russische Post-Avant-Garde der Gegenwart. Seither arbeitet Golynko auch als Kunstkritiker, zur Zeit ist er am Russischen Institut für Kunstgeschichte in Sankt Petersburg tätig und lehrt an der dortigen Filmhochschule. Von 2004 bis 2005 war er Gastdozent für Slawistik in Südkorea. Er schreibt regelmäßig Beiträge für Kunst-, Literatur- und Filmzeitschriften in Russland, den USA und Neuseeland. Seine Gedichte und Essays wurden bisher ins Englische, Deutsche, Französische, Finnische, Dänische, Schwedische und Italienische übersetzt. Besonders intensiv wird er in den USA rezipiert, nicht zuletzt dank seines umtriebigen Übersetzers und Kritikers Eugene Ostashevsky, der ebenfalls Dichter ist und aus Russland stammt. Aber auch in Deutschland wird seine Arbeit zunehmend gewürdigt, 2004 waren neuere Gedichte in der Horen-Anthologie „Neue Poesie aus Sankt Petersburg“ vertreten, 2005 war er bereits als Stipendiat der Stiftung Preußische Seehandlung in Berlin, und im polyglotten Internetportal „lyrikline.org“ kann man einige seiner Gedichte auf Russisch und Deutsch abrufen – und sie hören, von Golynko selbst vorgetragen.
Sein erster Lyrikband Homo Scribens erschien 1994 bei einem kleinen, aber einflussreichen Szeneverlag in Sankt Petersbuch und enthält vor allem Gedichte, die um 1989/90 geschrieben wurden, also zum Zeitpunkt der dramatischen Wende. Golynko charakterisiert seinen damaligen Stil heute als „post-futuristisch hyper-metaphorisch, mit Tonnen von Anspielungen auf die frühe russische Literatur und verdrehten Allegorien, der italienischen Renaissance entliehen.“ 2001 veröffentlichte er den nächsten Band, diesmal beim Moskauer Verlag Argo-Risk. Hier vollzieht sich der Wechsel von kurzen, stark verdichteten experimentellen Gedichten zu langen Verserzählungen, die das Chaos der neuen Ära mit viel Ironie und virtuoser Wortspielerei gestalten. Eugene Ostashevsky betont in seiner Einleitung zur englischen Übersetzung von „Sashenka“, wie Golynko als Ausnahmetalent der zeitgenössischen russischen Poesie die Sprache nutzt, um die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen in seinem Land sichtbar zu machen. In den frühen Gedichten fallen die frivolen Phantasmagorien auf, die dekadenten Szenerien, in denen Rokoko-Elemente, Fin-de-siècle-Ästhetizismus und heutige Club-Culture eine heiter-wüste Verbindung eingehen. Golynko, der die wachsende Korruption der russischen Sprache als Folge gesellschaftlicher Korruption dokumentiert und reflektiert, ihr in seiner Entwicklung als Lyriker folgt, indem er die Zersetzung nachvollziehbar macht und zugleich mit seinem reichen Instrumentarium dagegen angeht, erklärte in einem Interview die Hintergründe für diesen negativen Sprachwandel: In der Spätphase der Sowjetunion stellte die Weltliteratur für Schriftsteller eine Zuflucht dar, sie war die „einzige autonome Sphäre“, die sich dem Zugriff der Politik entzog. So kannte der literarische Nachwuchs die Klassiker ebenso wie die modernen und postmodernen Dichter, die ins Russische übersetzt wurden. Im Bereich der Literatur standen ihm alle Zeiten und Länder offen, Antike, Barock, Romantik ebenso wie Dada und Surrealismus. Im neuen wilden Kapitalismus ging diese kulturelle Utopie schnell verloren, genau wie der sakrale Charakter der poetischen Sprache. Von heute auf morgen mussten die Schriftsteller sich auf eine marktgerechte Gebrauchsliteratur umstellen, was eine beispiellose Verarmung und Verflachung zur Folge hatte. Golynko will als Dichter dagegen Widerstand leisten und beschreitet immer neue Wege, um die ethische und ästhetische Dimension sozialer Transformationsprozesse zu erschließen. Inzwischen hat sein Stil sich drastisch verändert, er verzichtet auf die literarischen Anspielungen, auf die Kontrastierung von Hoch- und Massenkultur. Das Verspielte und Sinnliche ist einer konzentrierten Kargheit gewichen, einem „lexikalischen Naturalismus“, wie Ostashevsky schreibt. Dieser Naturalismus Golynko’scher Prägung offenbart die russische Sprache des 21. Jahrhunderts in ihrer neuen Brutalität – eine Herausforderung für alle Übersetzer aus westlichen Gesellschaften, die keinen vergleichbaren (Sprach-)Wandel erlebt haben -, die Welt der Kriminalität, die Profitorientiertheit, die Reduzierung aller Menschen auf einen reinen Objektcharakter. So entstand der Zyklus „Elementare Dinge“, mit dem Dmitri Golynko erstmals auch deutschen Lesern vorgestellt wurde: „ein elementares ding geht auf den markt des/ verbilligten blödsinns, kauft im/ Ausverkauf etwas angenehmes und nützliches/ ein anathema oder liebe/ die ware hängt ihm unglaublich schnell zum hals raus…“ Zur Zeit bereitet er die Veröffentlichung seines nächsten Gedichtbands vor, der seine theoretischen Überlegungen zur Entwicklung einer „Poetik der objektiven Präzision“ umsetzt. Damit soll die Auflösung von Subjekt und Sprache im heutigen Russland möglichst objektiv erfasst werden. Ein in der Lyrik denkbar seltenes und kühnes Unterfangen – für das Dmitri Golynko als Theoretiker und Praktiker der Poesie die besten Voraussetzungen mitbringt.

Veröffentlichungen in deutscher Übersetzung:

„Elementare Dinge“, „Grade des Interesses“ und „Viel Verschiedenes“ in: Die Horen, Nr. 214, „Neue Poesie aus Sankt Petersburg“, 2004. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold

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