Mexiko, Literatur, 2021

Fernanda
Melchor

Foto: Maj Lindström

Die Schriftstellerin Fernanda Melchor, geboren 1982, stammt aus dem mexikanischen Bundesstaat Veracruz. Als die studierte Journalistin einen Mordfall in der mexikanischen Provinz nicht recherchieren wollte, um sich in einer von Drogenproduzenten beherrschten Region nicht selbst zu gefährden, wurde aus dieser Vorsicht einer der erstaunlichsten Romane der neuesten Gegenwartsliteratur. Er heißt Saison der Wirbelstürme.

Dieser Roman – ihr dritter – spielt im fiktiven Dorf La Matosa in der Nähe von Veracruz. Dort gibt es eine Hexe, auf die die DorfbewohnerInnen ihre Ängste und Hoffnungen projizieren – bis sie ermordet aufgefunden wird. Die Handlung spielt im 21. Jahrhundert, in einer archaischen Welt, wie sie die Entstehung der Stoa befördert haben muss, die Hoffnung auf Freiheit von Leidenschaften, auf Gelassenheit als Grundlage der Kultur. Alle Gefühle, alle Affekte sind gleich heftig, die Liebe ist heftig, die Angst ist heftig, die Mordlust ist heftig, und die Angst hilft der Liebe, in Mordlust umzuschlagen. Die Romanfiguren sind ihren Gefühlen ausgeliefert wie dem Wetter, sie arbeiten sich durch sie hindurch, sie wollen fort, ihrem Dorf entkommen, sich selbst entkommen. Sie humpeln ihren Trieben hinterher, wollen nicht dorthin, wo die Triebe schon sind, und müssen es doch, und sie hinterlassen dabei eine Spur der Verwüstung.

Fernanda Melchors Romanfiguren haben keinen Zugang zu Kultur, zu Bildung, keinen Zugang zu dem Geld, das ihnen beides verschaffen könnte. Sie haben keine Möglichkeit, sich zu befreien und in Würde zu leben. Und: Es ist eine weit entwickelte, hoch komplizierte Zivilisation, die die Menschen in diesen vorzivilisatorischen Zustand zurückgestoßen hat und sie dort gefangen hält. Es sind – eher zufällig – Zentrifugalkräfte der globalen Ölindustrie, denen die Romanfiguren in ihrem Dorf ausgesetzt sind. Und die Weltmärkte sind nicht darauf angewiesen, dass die Menschen, die sie verbrauchen, Kultur haben. Sie sind nicht darauf angewiesen, dass die Menschen, die sie verbrauchen, nicht verrecken. Und sie halten sich dabei selbst für hoch kultiviert. Diese kultivierte Welt kommt hier nicht vor. Die Wirklichkeit, die Fernanda Melchor für uns fasst, ist eine der Armut und gnadenlosen Ausbeutung.

Fernanda Melchor hat beschlossen, zum Selbstschutz reale Begebenheiten zu fiktionalisieren. Sie hat dafür eine eigene Sprache gefunden, die eines poetisch fast unerträglich verdichteten Hyperrealismus. Der Roman beschreibt nicht weniger als eine Hölle auf Erden unserer Zeit. Er bekräftigt aufs Neue die Notwendigkeit von Literatur – als Mittel, eine Wirklichkeit, die sich notfalls mit Gewalt dagegen wehrt, beschrieben zu werden, als künstliche Wirklichkeit doch noch zu fassen zu bekommen. Freiheit bedeutet, etwas in Sprache fassen zu können. Verbrechen in Sprache fassen zu können, ist ein Sieg der Kultur über das Verbrechen.

Die Saison der Wirbelstürme, auf Deutsch 2019 in der Übersetzung von Angelica Ammar erschienen, wurde vielfach ausgezeichnet: Autorin und Übersetzerin erhielten im gleichen Jahr den Anna-Seghers-Preis und den Internationalen Literaturpreis – Preis für übersetzte Gegenwartsliteraturen; in Mexiko war das Original schon 2018 mit einem Preis des PEN-Club ausgezeichnet worden; die englische Übersetzung stand 2020 auf der Shortlist des Man Booker Prize.

Der Band reiht sich ein in ein Schreiben von großer Konsequenz. Schon in ihrem Geschichtenband Aquí no es Miami (2013) erzählt Fernanda Melchor aus der Perspektive einer Überlebenden von menschlicher Erniedrigung in allen Schattierungen und auch ihr jüngstes Buch Páradais (2021) verhandelt anhand von zwei jugendlichen Outcasts, die sich nachts in einem Nobelviertel treffen, um ein makabres Spiel zu spielen, eine Gewalt, die nahezu zwangsläufig aus der Kollision ungleicher Welten resultiert.

Text: Robin Detje

Páradais
Literatura Random House, Barcelona, 2021

Temporada de Huracanes
Literatura Random House, Barcelona, 2017

Saison der Wirbelstürme
Wagenbach, Berlin, 2019 (Ü: Angelica Ammar)

Hurricane Season
Fitzcarraldo Editions, London, 2020 (Ü: Sophie Hughes)

Aquí no es Miami
Literatura Random House, Barcelona, 2013

Falsa liebre
Almadía, Mexiko-Stadt, 2013

Mi Veracruz
Ayuntamiento de Veracruz, Veracruz, 2008

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