Mazedonien, Literatur, 2017

Goce
Smilevski

Foto: Foto: Galya Yotova

Darf man das: Fakten über historisch verbürgte Figuren erfinden? Mit dieser Frage sieht sich der mazedonische Autor Goce Smilevski regelmäßig konfrontiert. Denn Smilevski – 1975 in Skopje geboren – praktiziert mit Vorliebe, was man einen spekulativen Realismus nennen könnte, und beruft sich dabei gerne auf die bekannte Maxime des Schriftstellers Miguel de Unamuno, in dessen Augen Don Quichotte und Hamlet nicht weniger real waren als Cervantes und Shakespeare.

Cervantes, Shakespeare: Das sind große Namen – und in seiner Heimat Mazedonien ist auch Goce Smilevski längst ein Star. Dort wurde er 2002 für den Roman „Gespräch mit Spinoza“ (2016) mit dem Nationalpreis für den Roman des Jahres ausgezeichnet. Größere Bekanntheit über die Grenzen seiner Heimat hinaus erlangte er 2010, als er für den Roman „Freuds Schwester“ (2013) mit dem „European Union Prize for Literature“ geehrt wurde. Beide Romane – im Mazedonischen liegen zwei weitere vor aus der Feder des Autors, der in Budapest, Prag und Skopje Kultur- und Literaturwissenschaft studierte – zeigen Goce Smilevski als kühnen Magier: Aus wenig bis nichts zaubert er sehr viel. Über Baruch de Spinoza, der im Mittelpunkt von „Gespräch mit Spinoza“ steht, weiß man persönlich nämlich nicht sehr viel, außer dass er von 1632 bis 1677 lebte und aus der jüdischen Gemeinde exkommuniziert worden ist. Spinoza scheint insofern identisch mit seinem Hauptwerk „Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt“. Scheint, denn der französische Philosoph Deleuze war überzeugt, dass Spinoza die „Ethik“ zweimal geschrieben hatte. Zweimal, da Spinoza – so Deleuzes Theorie – ein gespaltener Charakter war: Die Leidenschaften, die er in diesem kühlen Tempel der Ratio für null und nichtig erklärt, würden ebendiese Ratio in der „Ethik“ wie ein dunkler Schatten grundieren. Diesen möglichen Riss in Spinozas Charakter macht Smilevski zum Ausgangspunkt und Gegenstand seines Romans. Spinoza spricht darin zweimal zu uns: Zuerst als Mann, der ganz in der Ratio aufgeht; dann als Mann, der Zeugnis ablegt von den persönlichen Entbehrungen, die ihn zu dem gemacht haben, der er einzig zu sein scheint: ein kühler Denker. Bei Goce Smilevski wird dieses Bild von Spinoza nämlich dekonstruiert: Der Denker wird zu einer Figur, der über die Abwesenheit von Leidenschaft nur räsonieren kann, weil er diese bis zur Neige gekostet hat. „Gespräch mit Spinoza“ ist insofern auch eine Reflexion über das grundlegende Verhältnis von Denken und Fühlen, die sich einer Ethik zuneigt, in der die Ratio kein Alleinstellungsmerkmal haben darf. Wo „Gespräch mit Spinoza“ Literatur und Philosophie verknüpft, verbindet „Freuds Schwester“ Literatur und Psychologie. Im Mittelpunkt steht Freuds jüngere Schwester Adolfine, von der nur wenige historische Zeugnisse und Dokumente überliefert sind. Erneut macht Goce Smilevski aus der Not eine Tugend – indem er nicht ohne Risiko vermutet, erfindet, suggeriert. Der Roman beginnt 1938. Österreich hat sich Hitler angeschlossen, es ist der Anfang vom Ende. Soeben packt Freud in Wien seine Koffer, um mit den Seinen und einer zahlreichen Entourage samt Hund und Leibarzt ins Londoner Exil aufzubrechen. Seine Schwestern aber lässt er zurück, er hat sie nicht auf die Ausreise-Liste gesetzt – wenige Jahre später werden sie deportiert und von den Nazis in Auschwitz und Theresienstadt vernichtet. Von dieser Eingangsszene aus kehrt die Handlung zurück zu den Anfängen der Familie, weitet von dort aus die Perspektive, indem prominente Figuren eingeführt werden, die das Zeitalter und seine Geistesströmungen verkörpern: Gustav Klimt, Schopenhauer, Nietzsche, Nerval. Doch Smilevski erzählt aus der Sicht von Frauen, die allesamt im Schatten dieser großen Männer stehen. Den männlichen Lichtgestalten wird das Leiden der Frauen gegenüber gestellt, der Blick ins Private spiegelt wie im Brennglas die Verwerfungen der Zeit, das „Fin de Siècle“ wird in ein ätzendes Säurebad getaucht: Ein Großteil der Handlung findet an Nicht-Orten statt – in Anstalten, Hospitälern und im KZ. Dort trifft Adolfine weitere namhafte Zeitgenossinnen: Ottla, Kafkas Schwester; Johanna Broch, Mutter von Hermann Broch; und Mia Kraus, Schwester von Karl Kraus. Sprich: Die mögliche Befreiung, die sich anbahnte mit der Verschiebung von einem christlich-religiösen zu einem wissenschaftlich-rationalen Denken, wird nicht allein den Frauen vorenthalten. Eine Gesellschaft modernisiert sich – schließt jedoch entscheidende Teile der Gesellschaft aus. Emanzipation und Repression gehen scheinbar mühelos Hand in Hand. Fast die Hälfte des Romans handelt deshalb vom Wahnsinn, wie er aus Schmerz geboren wird. Wie im Wahnsinn reißen auch im Roman die Fäden der Handlung immer wieder ab. Der Leser ist konfrontiert mit einem von Lücken und Rissen durchsetzten Text, der wie zerfranst scheint von intermittierenden Reflexionen, Zitaten und Sentenzen. Dazwischen: ein karnevaleskes Intermezzo – Bachtin lässt grüßen –, in dessen Kontext Smilevski eine so gelehrte wie frivole Debatte über den Nutzen der Psychoanalyse inszeniert. Zusammengehalten wird all dies vom Mittel der Wiederholung – und von der hypnotischen Sprache des empathischen Erzählers Smilevski, der Einzelszenen bedeutsam aufzuladen weiß. Nicht zuletzt aber erweist sich Goce Smilevski als europäischer Autor durch und durch: als einer, der seine Geschichten, so die Literaturkritikerin Insa Wilke, „an den großen Entwürfen entzündet, die Europa und die Welt revolutioniert haben. Smilevskis Anspruch ist es, solche Theorien und ihre museal erstarrten Protagonisten mit den Lebenserzählungen ihrer Zeit zu verbinden und in Richtung Gegenwart zu öffnen.“ Sein Schriftstellerkollege Joshua Cohen sieht das genauso: Smilevski, so Cohen, sei einer der wenigen lebenden europäischen Schriftsteller, der eine Botschaft habe für das zukünftige Europa. Sie lautet: mehr Ethik, mehr Gefühl, mehr Rückkehr zu den Wurzeln des Projektes „Europa“. Diesem Europa – das der von Smilevski verehrte Philosoph Edmund Husserl schon 1935 in seinem Text „Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie“ nicht so sehr als territoriale, sondern als geistige Identität skizzierte – gilt Goce Smilevskis ganze Leidenschaft. Sein neustes Projekt wird, ausgehend von Husserls Text, folgerichtig von ebendiesem Europa handeln, das erneut in eine tiefe Krise geraten ist.

Text: Claudia Kramatschek

Freuds Schwester. Roman. Übersetzung: Benjamin Langer. Verlag Matthes & Seitz. Berlin 2013.
Gespräch mit Spinoza. Roman. Übersetzung: Benjamin Langer. Verlag Matthes & Seitz. Berlin 2016.

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