Österreich / Ungarn, Musik, 1969

György
Ligeti

Als György Ligeti (geb. 1923 in Diciosânmartin, Siebenbürgen; gest. 2006 in Wien) im November 1969 Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD (BKP) wurde, war er längst zu einem der Protagonisten postserieller Ästhetik avanciert, der mit mikropolyphonen Orchesterstücken wie Atmospheres (1961) Musikgeschichte geschrieben hatte. Zur Zeit der Einladung des BKP lebte der 1956 aus Ungarn geflohene Exilant als freischaffender Komponist in Wien (Ligeti erhielt 1967 die österreichische Staatsbürgerschaft) und nahm als Gastdozent regelmäßige Lehrverpflichtungen in Stockholm wahr.

Ligetis Stipendienaufenthalt fiel in eine ästhetische Umbruchsphase des Komponisten. In Berlin schrieb er mit dem Kammerkonzert für 13 Spieler (1969/70) eines seiner zentralen Werke, das zwischen früheren und zukünftigen kompositorischen Verfahren vermittelt. Das Konzert erscheint wie eine Synthese der beiden vorangegangenen Werke, des 2. Streichquartetts (1968) und der Zehn Stücke für Bläserquintett (1968), die grundlegende Bewegungscharaktere von Ligetis Musik (statisch – zersplittert – mechanisch) zu einer kontrastiven Mehrsätzigkeit ausgebaut hatten. Erstmals in Ligetis Werk spielt die Formdisposition in viersätziger Anlage auf klassisch-romantische Satzcharaktere im Sinne von Kopfsatz-Allegro, Adagio, Scherzo und Finale an. Das konzertante Zusammenwirken der Stimmen vollzieht sich als komplexe Polyphonie ausgeprägt virtuos-solistisch aufgefasster Einzelstimmen und entwickelt Formen zeitlicher Organisation, die sich Techniken metrischer Unbestimmtheit und Verschiebung bedienen. Im zweiten Satz nimmt die polyrhythmische Überlagerung melodiös gearbeiteter Stimmenverläufe, inspiriert durch Ligetis Begegnung mit der Musik Charles Ives’, collagenartige Züge an. Ligeti konstruiert hier erstmals eine ausgefeilte Polytempik, die Überlagerungen von bis zu acht parallelen Geschwindigkeiten provoziert. Das rasende Finale kommt mit seinem aberwitzigen Tempo (so virtuos als möglich) und wie verrückt zu spielenden Ausbrüchen als groteske Überzeichnung instrumentalen Virtuosentums daher. Erstaunlicherweise stieß das am 1. Oktober 1970 vom Ensemble „die reihe“ unter Friedrich Cerha bei den Berliner Festwochen uraufgeführte Stück bei der Kritik weitestgehend auf Unverständnis, heute zählt es zu Ligetis meistgespielten Kompositionen.

Nach Ablauf des Stipendiums blieb Ligeti für zwei weitere Jahre in Berlin und schrieb dort mit den Melodien für Orchester (1971) und dem Doppelkonzert für Flöte, Oboe und Orchester (1972) weitere wichtige Kompositionen; auch erste Entwürfe und Arbeitstreffen für seine Oper Le Grand Macabre fallen in diese Zeit. Während seines Berliner Aufenthaltes zeichneten sich Hochschul-Angebote aus Köln, Wien, Berlin und Hamburg ab; Ligeti entschied sich für Hamburg und trat 1973 eine Kompositionsprofessur an der dortigen Hochschule für Musik und Theater an. Diverse Portraitkonzerte im Kontext der Akademie der Künste, Berlin (Beitritt 1968), führten Ligeti jedoch weiterhin regelmäßig in die Stadt. Seine lebenslange Affinität zu Berlin betonte Ligeti 2003 rückblickend im Gespräch mit Eckhard Roelcke: „Meine Heimat ist eigentlich Berlin. So merkwürdig das auch klingen mag. […] Die Stadt ist durch die Verfügbarkeit von Ost und West sehr interessant geworden. Ich bin fasziniert von Berlin und war es auch damals, als ich in Westberlin wohnte.“

Text: Dirk Wieschollek

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