Nigeria, Literatur, 2013

Helon
Habila

Foto: Privat

Als Nigeria 1960 unabhängig wurde, zeichnete sich das mittlerweile bevölkerungsreichste Land Afrikas nicht zuletzt durch eine lebhafte und stimmgewaltige Literaturlandschaft aus: Chinua Achebe, Wole Soyinka, Christopher Okigbo oder auch Cyprian Ekwensi waren Leitbilder einer jungen Nation, in der die Literatur von Anfang an verwoben war mit dem Wunsch nach gesellschaftlicher Erneuerung.

Doch Nigerias verheißungsvoller Aufbruch währte nur kurz. 1967 verfiel das Land in einen blutigen Bürgerkrieg: Der sogenannte Biafra-Krieg, dem ethnische Differenzen in dem Vielvölkerstaat zugrunde lagen, kostete über eine Million Menschenleben. Anfang der 70er Jahre erlebte das Land zwar einen Ölboom und Nigeria war plötzlich der größte Erdölexporteur des afrikanischen Kontinents. Doch Korruption und Nepotismus verhinderten eine dauerhafte ökonomische Stabilisierung. Dann kam die Ölkrise, die Landeswährung verfiel. Ein Militärputsch im Jahr 1983 eröffnete schließlich einen brutalen Reigen despotischer Diktatoren, der seinen Höhepunkt fand unter General Sani Abacha, der das Land von 1993-1998 mit grausamer Hand führte. Zensur, politische Repression, fehlende Infrastruktur: Gegen diese Widerstände hatte auch Helon Habila zu kämpfen, der 1967 im Nordosten Nigerias zur Welt kam und nach nunmehr drei Romanen als einer der aufregendsten und kraftvollsten Autoren der jüngeren Schriftstellergeneration Nigerias gelten darf. Tatsächlich gehen bei Habila Poesie und Politik in eindringlicher Weise Hand in Hand: Angeleitet von einem ausgeprägten Geschichtsbewusstsein, greift Habila bereits in seinem ersten Roman „Waiting for an angel“ (2002) auf reale historische Ereignisse in seiner Heimat zurück, verleiht diesen aber durch die bewusst eingesetzte Ästhetik einer formalen Unschärferelation stets auch metaphorische Bedeutung. „Waiting for an angel“ – 2001 zuerst unter dem Titel „Prison Stories“ im Selbstverlag erschienen – vermittelt anhand von sieben lose miteinander verbundenen Geschichten Leben und Alltag in den 90er Jahren zur Zeit der Militärdiktatur von General Abacha. Gewalt ist in diesem Roman von der ersten Seite an allgegenwärtig. Doch Habila geht es nicht um Chronik oder Dokumentation, sondern um den „menschlichen Faktor“: die traumatischen Effekte von Gewalt auf die Psyche seiner Figuren. Im Mittelpunkt des Romans steht Lomba, ein junger Journalist, der aus fadenscheinigen Gründen verhaftet wird und im Gefängnis ein Tagebuch verfasst, das unschwer Wole Soyinkas Klassiker „The man died“ Reverenz erweist. Doch trotz aller Düsternis, die seinem Roman zugrunde liegt, erzählt Habila darin auch von einem erfolgreichen Akt des Widerstands: vom Kampf mittels Worten um das fundamentale Recht, die Wahrheit zu sagen; vom Schreiben gegen und inmitten politischer Repression. Lomba ist auf seine Weise zugleich eine Art frühes alter ego des Autors: Wie Lomba wollte auch Habila immer Schriftsteller werden; auch Habila arbeitete – wie Lomba – als Journalist bei einer großen nigerianischen Tageszeitung, wo er lernte: alles ist politisch. Doch im Gegensatz zu Lomba hatte Habila das seltene Glück, mit seinem ersten Roman von Penguin UK unter Vertrag genommen zu werden. Ein steiler Aufstieg beginnt: 2001 erhält er als erster Nigerianer den Michael Caine Prize for Fiction, 2003 gewinnt er den Commonwealth Writers Prize für das beste Debüt aus Afrika. Und ebenso rasch gilt der Roman als generationsspezifischer Nachfolger von Chinua Achebes Roman „Things fall apart“, dem Dokument des postkolonialen Niedergangs eines afrikanischen Dorfes im Zuge des Zusammentreffens mit der Kultur der „Weißen“. Auch Habila, der laut eigener Aussage das Wort „Ikonoklasmus“ liebt, interessiert sich ausdrücklich für die Frage der afrikanischen Kultur. Aber im Gegensatz zu Achebes Generation lehnt er – wie sein zweiter Roman „Measuring Time“ (2007) zeigt – eine essentialistische Definition vehement ab. Für ihn ist Kultur ebenso ein Konstrukt wie die Geschichte mit großem G. „Measuring Time“, eine vor dem Hintergrund des panafrikanischen Kriegstheaters eher episch angelegte Erzählung über die divergierenden Lebenswege der Zwillingsbrüder Mamo und LaMamo, verknüpft Individualgeschichte mit der kolonialen Vergangenheit, Stammeskultur und afrikanische Mythen mit Plutarch, oraler Erzähltradition und westlichen literarischen Stereotypen über Afrika zu einer panoramaartigen Reflexion über den Wandel des ländlichen Nigerias von einer heidnisch zu einer eher westlich geprägten Gesellschaft. Die implizite entscheidende Frage, die der Roman stellt, lautet: Wie kann und muss über Geschichte geschrieben werden – jenseits einer überholten, da essentialistischen Identitätspolitik und somit jenseits der alten Schuldzuweisungen? Nicht nur in „Measuring Time“, auch in seinem dritten und jüngsten Roman „Öl auf Wasser“ („Oil on Water“, 2010) verzichtet Habila daher bewusst darauf, allein die früheren Kolonialherren für die Misere Afrikas verantwortlich zu machen. Vielmehr legt er die innerafrikanischen Mechanismen bloß – und verwischt die scharfe, aber allzu einfache Trennlinie zwischen Gut und Böse. „Öl auf Wasser“, von Thomas Brückner adäquat in eine so klare wie zugleich gleißende Sprache übertragen, erinnert an die vom Rest der Welt vergessene Katastrophe im Niger-Delta, wo die westliche Gier nach Öl und die multinationale Macht des Petrodollars ganze Landschaften in einen apokalyptischen Alptraum verwandelt und die Lebensgrundlage von Mensch und Tier, Flora und Fauna gleichermaßen vernichtet haben. Der Roman schildert die Reise zweier Journalisten – der eine jung, talentiert und voller Glauben an das Wort; der andere berühmt, aber ein körperliches und seelisches Wrack – in die labyrinthischen Flussarme des Niger-Deltas, auf der Suche nach der entführten Gattin eines englischen Ölkonzern-Repräsentanten. Die Reise erweist sich als eine in das „Herz der Finsternis“, denn die ökologische Zerstörung spiegelt den politischen und menschlichen Zusammenbruch eines Landes wider, das, so Habilas Befund, an sich selbst krankt und in einer heillosen Spirale von Gewalt verfangen ist. Stärker noch als im Debütroman fangen die formalen und stilistischen Elemente des Romans das Moment einer grundlegenden Orientierungslosigkeit ein: Zeitsprünge, Umwege, Abwege, Verschiebungen, Verdoppelungen, dazu die fast filmisch-fieberhafte Qualität der Landschaftsbeschreibungen und des Lichts. Es sind Bilder, die man nicht vergisst – von einem, der auf höchst kunstvolle Weise an die Macht der Literatur erinnert, Zeugnis abzulegen.

Text: Claudia Kramatschek

Öl auf Wasser. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Brückner. Wunderhorn Verlag. Heidelberg 2012.

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