Jaanus
Samma
Jaanus Samma nähert sich seinen Themen durch eine Kombination aus intensiver Recherche mit subtilem Sinn für Ironie und Humor. In seinem Werk verarbeitet er die queere Geschichte seines Heimatlandes Estland und der angrenzenden Regionen, wobei er ergiebige und gelegentlich erstaunliche Ergebnisse zu Tage fördert. Als „Alles“-Künstler legt sich Samma selten auf ein bestimmtes Medium fest. Seine Arbeiten entstehen projektbezogen, oft in Zusammenarbeit mit Mitarbeitenden und HandwerkerInnen, die er mit der Umsetzung seiner Visionen beauftragt. Dieser Prozess erstreckt sich auch auf die sorgfältig durchdachte Art und Weise, in der Samma seine Arbeiten ausstellt, womit er einen Raum für die Ausstellung als Kunstform öffnet. Mit jeder Ausstellung nimmt er eine Überprüfung der museologischen Normen und Annahmen vor, die versuchen, die Erfahrung des Betrachtens zu kodifizieren. Im Einklang mit dem Ungehorsam, der dem queeren Ansatz innewohnt, widersetzt sich Samma derlei Bemühungen um Kodifizierung.
Trotz der grundsätzlichen Kontinuität der Forschungsinteressen, die seinen Arbeiten zugrunde liegen, lässt es sich nie vorhersagen, auf welche Weise sich ein Werk in der öffentlichen Ausstellungen manifestieren wird. In seinem Projekt Hair Sucks übertrug Samma die derbe Sprache und die Zeichnungen von Toiletten-Graffiti, denen er auf seinen Reisen durch Europa begegnet war, auf Pullover, die er im Ausstellungsraum verkaufte. Für seine 2018 gezeigte Ausstellung Outhouse by the Church inszenierte Samma eine ungewöhnliche interventionistische Erkundung der männlichen Toilette als Cruising-Zone mittels eines Ausgrabungsblicks auf die öffentlichen römischen Bäder in Rom in der Nähe des Ausstellungsortes, des Wiederaufbaus eines alten Plumpsklos in Ost-Estland und der Tuschezeichnungsserie Study of a Toilet, 2016-2018.
Für den estnischen Pavillon auf der Biennale von Venedig im Jahr 2018 zeigte Samma mit dem Video NSFW. A Chairman’s Tale die Lebensgeschichte eines estnischen Bürokraten aus der Sowjetära, dessen Karriere und Leben ruiniert wurden, als er wegen seiner homosexuellen Aktivitäten geoutet wurde. In der Ausstellung „Iron Men“, die 2023 im Museum für zeitgenössische Kunst in Estland zu sehen war, befragte Samma estnische nationale Mythen und Designmotive aus der Sowjetzeit unter dem Gesichtspunkt von Gender und Sexualität.
Trotz eines vollen Ausstellungskalenders macht Samma weiterhin Fortschritte, nicht nur bei der Weiterentwicklung von Forschung als visueller Kunstpraxis, sondern auch bei der Freilegung von Aspekten der Geschichte, die andernfalls im Dunkeln bleiben würden – was unser Verständnis der Vergangenheit, der Gegenwart und der möglichen Zukunft der baltischen und osteuropäischen Region wesentlich fördert. Aus diesem Grund hat Sammas Werk ein breites und aufgeschlossenes Publikum auch außerhalb der Kunstwelt gefunden – 2013 wurde er sowohl mit dem People’s Choice Award des Museum für zeitgenössische Kunst in Estland als auch mit dem Köler-Preis ausgezeichnet, dem renommiertesten Preis des Landes für bildende Kunst. Mit seiner ständigen Neuinterpretation des Archivarischen rückt Samma neues Wissen und neue Möglichkeiten in den Vordergrund.
Text: Travis Jeppesen
Übersetzung: Anna Jäger