Jiyoung
Yoon
Nach (einer) Skulptur
Die physikalischen Eigenschaften von Skulpturen setzen bei Jiyoung Yoon komplexe Ideen frei. Als Künstlerin geht sie an ihre Arbeit mit der Einstellung einer Bildhauerin heran, erforscht aber gleichzeitig die Sprache der zeitgenössischen Kunst. Das (unendlich aufgeschobene) Ende der Skulptur sieht sie in mehrerlei Hinsicht vor sich, wird sich doch mit der Zeit die physische Kapazität erschöpfen, die für den Umgang mit schweren und schwierigen Materialien erforderlich ist. Nur mit den Haaren an einer Eisenstange festgeknotet, hängt Yoon in ihrer frühen Videoarbeit Seeing Things the Way We See the Moon (2013) von der Decke. In dem Moment, in dem ihre AssistentInnen den Knoten durchschneiden, stürzt sie ab und landet auf hohlen Schildkrötenpanzern, die als Puffer auf dem Boden ausgelegt sind. Yoon schafft eine einfache, aber spannende Anordnung gegenseitiger Abhängigkeit: Nicht nur muss sie sich mit aller Kraft festhalten, sondern auch Vertrauen in andere setzen, die ihrerseits einer großen Verantwortung gerecht werden müssen. Die atemberaubenden Performance demonstriert ihre Überzeugung, aus der Gefahr Kraft schöpfen zu können.
Auch in weiteren Arbeiten setzt Yoon ihre ganze Energie ein. To Deliver (2020), eine Zusammenarbeit mit Stephen Kwok, zeigt die verzweifelten Bemühungen um die gemeinsame Nutzung physischer Objekte im digitalen Raum vor dem Hintergrund der Covid-Beschränkungen. Die Arbeit befasst sich dabei nicht nur mit physischen Aspekten, sondern auch mit der Antriebskraft von Freundschaft und Solidarität, ohne die kreatives Tun kaum möglich wäre. Wie sollte die Kunstform der Skulptur auf die Verbreitung digitaler Medien reagieren, die das menschliche Sensorium mit Eindrücken überfluten und die Wahrnehmung der Welt verändern? Wie lässt sich künstlerisches Schaffen als physische Intervention in Einklang bringen mit der Ethik des ökologischen (Nicht-)Eingreifens?
Wie vom Minimalismus bereits angedeutet, erzeugen abstrakte Skulpturen in menschlicher Größe den Eindruck phänomenologischer Präsenz. Anstelle von kalten und anonymen Industriematerialien wählt Yoon dabei bewusst flexiblere und anpassungsfähigere Materialien wie Latex und Silikon. Implizit oder explizit vergleicht sie die Skulptur – beziehungsweise die Strukturelemente einer Skulptur – mit dem Menschen. In Seeing Things the Way We See the Moon (2013), A Single Leg of Moderate Speed (2016) und Alas (2016) sind die einzelnen Teile mit Schnüren verbunden, teilweise hängen sie von der Decke herab. Jede Zustandsveränderung eines Elements hat unweigerlich Auswirkungen auf die anderen. In den Worten der Künstlerin offenbart sich hier „eine Struktur von Aufopferung oder Vertrauen“ zwischen den abstrahierten Einheiten, was sich als Allegorie auf eine zugrundeliegende psychologische Struktur verschiedener Beziehungen lesen lässt.
Der Konflikt um Sexualität und Gender, der sich in den letzten Jahren weltweit entzündet hat, ist zu einem hart umkämpften Schlachtfeld geworden – auch in der koreanischen Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund bedient sich Yoon der berühmten Bildkomposition von Leda und dem Schwan und steigt im gleichnamigen Werk aus dem Jahr 2019 tiefer in den gemeinsamen ontologischen Horizont von Frauen ein. Die Idee der Analogie zwischen einer Skulptur und dem menschlichen Körper geht hier über die universellen physischen Eigenschaften des Körpers hinaus und findet sich in der weiblichen Physis verkörpert. Die analytische und logische Struktur von Yoons Sprache verschwindet nicht völlig, ist aber in Auflösung begriffen, verzerrt und verdreht sich – was sie sinnlicher und intuitiver macht. Tatsächlich hat die Künstlerin dies unzählige Male am eigenen Leib erfahren.
Text: Junghyun Kim
Übersetzung aus dem Englischen: Anna Jäger
Bildnachweis: Jiyoung Yoon, „Leda and the Swan“ (2019), mixed media, dimensions variable
Foto: Euirock Lee (provided by Art Sonje Center)