Kanada, Literatur, 2011

Ken
Babstock

Als er 2009 vom Nationalsender CBC zu einem der zehn besten lebenden englischsprachigen Dichter Kanadas gekürt wurde, war Ken Babstock keine vierzig Jahre alt und hatte erst drei schmale, aber gehaltvolle Bände vorgelegt.

1970 in Neufundland geboren, wuchs der Sohn eines Pfarrers im Ottawa-Tal auf und befasste sich schon als Jugendlicher mit Poesie, in Abkehr von der Kirchensprache, die er als verlogen empfand. Sein Interesse an Philosophie führte ihn zur Concordia University von Montreal, doch dann brach er das Studium ab und verrichtete zwölf Jahre lang körperliche Schwerstarbeit in Irland und Kanada, in Wäldern, Fabriken und auf dem Bau. Aus diesen Erfahrungen schöpfte er Inspiration für viele Gedichte, die zunächst in Literaturzeitschriften und Anthologien erschienen und ihm bald die ersten Literaturpreise eintrugen. So gewann er 1997 Gold bei den Canadian National Magazine Awards.
1999 erschien bei der renommierten House of Anansi Press in Toronto – bis heute Ken Babstocks Hausverlag, in dem er inzwischen auch als Lyriklektor arbeitet – sein erster Gedichtband, unter dem herausfordernd-vieldeutigen Titel Mean (was unter anderem fies, geizig, niederträchtig oder klasse heißen kann, aber auch Mittel oder tatsächlich: bedeuten). Darin erkundet Babstock die ursprünglich-wilden Landschaften seiner Jugend genauso wie die Abgründe der menschlichen Natur, kontrastiert die unberührte Idylle mit gewissen zerstörerischen Erscheinungsformen von Zivilisation, seien es Motorräder oder Gefängnisse, bringt die Gewalt zum Vorschein, die bei Mensch und Natur unter der Oberfläche lauert. Statt in romantischer Verklärung zu schwelgen, richtet der Dichter einen schonungslos realistischen Blick auf urbane und rurale Welten, beschreibt Hockey-Fouls oder Kindesmissbrauch, erzählt aber auch in atemberaubender Eindringlichkeit von so intimen Erfahrungen wie die von Einsamkeit oder Liebe. Seine Sprache ist dabei stets stark verdichtet, ob es sich um spektakuläre oder leise Themen handelt. Für dieses wuchtige Debüt wurde er mit dem Milton Acorn Award und 2000 mit dem Atlantic Poetry Prize geehrt.
2001 legte Ken Babstock den zweiten Band vor, Days into Flatspin, der seinen Ruf als eines der vielversprechendsten Talente seiner Generation festigte. Stilistische Meisterschaft, überraschende Metaphorik und vollendete Klangkunst zeichnen die Gedichte aus, die durch eine Fülle von Formen und Themen bestechen. Ein Frisbee-Spiel wird zum Sonett, der Anblick einer Kuh löst eine Reflexion über Werden und Vergehen aus, ein platter Reifen erinnert an die surrealen Uhren von Dalí. Ein anderes Gedicht bezieht sich auf Das Floß der Medusa von Géricault: Babstock ist – bei aller rauen Naturverbundenheit ? in vielen Kulturen heimisch und schlägt immer wieder eine Brücke von der Neuen zur Alten Welt, reagiert auf das Werk anderer Künstler und Dichter wie Giacometti, Thomas Hardy oder Richard Hugo.
Airstream Land Yacht, die Bezeichnung für ein Wohnmobil, die drei Elemente vereint, Luft, Erde und Wasser, ist der Titel des dritten Bands, der 2006 erschien und Ken Babstock über die Grenzen der anglophonen Welt hinaus bekannt machte. Gedichte daraus wurden ins Niederländische, Französische, Serbo-Kroatische und Lettische übersetzt. Lutz Seiler, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Dichter hierzulande, hat im Rahmen des Übersetzungsworkshops „VERSschmuggel“ einige Gedichte ins Deutsche übertragen, als Ken Babstock auf Einladung der Berliner Literaturwerkstatt am Poesiefestival 2007 teilnahm. Darunter auch „The World’s Hub“, Babstocks freie Adaption eines Gedichts von Pier Paolo Pasolini, die auf Deutsch unter dem Titel „Die Nabe der Welt“ eine Ahnung von der Bild- und Klangkraft des kanadischen Dichters vermittelt: „… Ein jeder unterwegs, wohin/ auch immer in den grenzen ihres nichts; wer übrig/ bleibt gefangen im öffentlichen nahverkehr: gepfercht/ in tausend-watt-leuchtstreifen/ hockten die armen, die irren, adoleszenten/ und führerschein-verlierer, die schon am tagbesoffenen,/ und Maltons neuankömmlinge.“ Babstock revanchierte sich mit der Übersetzung einiger Gedichte von Lutz Seiler ins Englische, ein produktiver Austausch, der demnächst fortgesetzt werden soll.
In Kanada überschlugen sich auch bei diesem dritten Band die Kritiker, Ken Babstock wurde in einem Atemzug mit W.H. Auden genannt und 2007 für den Griffin Poetry Prize nominiert, den weltweit höchstdotierten Lyrikpreis. Die Jury, zu der auch Charles Simic gehörte, begründete ihre Auswahl unter anderem mit Babstocks ungeheurer Bandbreite: „Hier haben wir es mit einem Dichter zu tun, der praktisch alles gestalten kann, in formaler wie thematischer Hinsicht, Liebe, Landschaft, Körper, Stadt, physischer Schmerz und die freudige Wahrnehmung sinnlicher Details einer Welt voller Wunder und Rätsel. … Babstock kann prägnant sein, von abgründiger Komik, zärtlich, elegisch, weise, geheimnisvoll, doch ist er dabei stets unverbraucht und stets aufrichtig.“ Über diese Würdigung dürfte sich der Dichter besonders gefreut haben, der schon in ganz jungen Jahren in der Poesie das wahre Wort suchte.
Zu Beginn seiner Lesung bei der Griffin-Prize-Zeremonie sagte Babstock, der sich auch als Herausgeber und Dozent für die Vermittlung von Lyrik einsetzt, er würde Amok laufen, wenn ihn die Medien noch ein einziges Mal fragten, ob die Poesie tot sei. Seine Diagnose lautet, dass es ihr prächtig geht – was er mit jedem Vers aufs Neue beweist. Im Frühjahr 2011 erscheint bei House of Anansi der lang erwartete vierte Band, Methodis Hatchet, während er wieder an neuen Gedichten arbeitet, die sich unter anderem mit physikalischen Fragen und der Philosophie der Zeit befassen. Neuerdings lockt ihn auch die Prosa, so dass wir eines Tages vielleicht sogar einen Roman aus der Feder dieses begnadeten Dichters zu lesen bekommen werden.

VERSschmuggel /reVERSible: Canadian Poetry /Poésie du Québec. Herausgegeben von Thomas Wohlfahrt. Autoren: Ken Babstock, Claude Beausoleil, Nico Bleutge und andere. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2008

Lyrikline: „Kompatibilist“ und „Die Nabe der Welt“, deutsche Fassungen von Lutz Seiler. http://lyrikline.org

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