USA, Literatur, 2015

Lance
Olsen

Foto: Andi Olsen

„Man sei versucht, ihn Lance Armstrong zu nennen – ¬ schon allein aufgrund seiner Hochgeschwindigkeits-Prosa, seines blitzschnellen Intellekts und seiner Gabe, mit Wahrheiten zu spielen.“ So heißt es im Web-Porträt der in Berlin ansässigen American Academy über den 1956 geborenen amerikanische Autor Lance Olsen, der dort Januar bis Mai 2013 als Fellow des „Mary Ellen von der Heyden Berlin Prize in Fiction“ zu Gast war. In seiner Heimat gilt der Autor, der an der Universität von Utah experimentelle Literaturtheorie und -praxis lehrt, als einer der profiliertesten Vertreter des metamodernen Erzählens.

Sein Œuvre umfasst derzeit 12 Romane, einen Hypermedia-Text, mehrere Erzähl- und Essaybände (über die Möglichkeiten eines innovativen zeitgenössischen Erzählens) sowie zwei „Anti-Text-Bücher“. Was dieses Œeuvre auszeichnet, sind die permanente Überschreitung jeglicher Genregrenzen und das Ineinanderblenden von Lyrik und Prosa, Fakt und Fiktion, Theorie und Narration. Was es sich zum Ziel setzt: die Grenzen dessen, was wir wissen und (be)schreiben können, permanent zu hinterfragen. „The unreal is exactly like the real, only more sincere“ – postuliert deshalb auch der namenlose Erzähler in Olsens Roman „Girl Imagined by Chance“ (2002). Darin erzählt er die Geschichte eines kinderlosen Paares, das einer Verwandten zuliebe die Lüge in die Welt setzt, ein Kind zu bekommen. Eine Lüge zieht die nächste nach sich; die Fiktion schafft Tatsachen, zu denen auch Fotografien gehören, die das Paar verschickt – und die im Roman mit abgebildet sind. Dieses Autoren-Spiel mit der Ambiguität von Text und Bild weitet sich bei Lance Olsen zu einer generellen Reflexion über das Wesen jeglicher Repräsentation und Reproduktion (zu der für Olsen auch das Medium der Schrift zählt). Aus dem in seinen Augen unüberbrückbaren Abstand zwischen dem „Realen“ und dem „Fiktiven“ schlägt er zugleich literarisch Kapital. Allzu oft, so erklärte er in einem Interview im Jahr 2002, erachte man die Sprache als eine Art Schaufenster, das es erlaube, auf die Wahrheit zu blicken. Ihn allerdings interessiere das Dazwischen: der Bereich, in dem jede Fiktion zu einem Teil der eigenen Erinnerung wird – und jeder Akt der Erinnerung unausweichlich fiktive Anteile in sich trägt. Von eben dieser produktiven Lücke leben beispielsweise die fiktionalen Biografien, in denen Lance Olsen auf der Grundlage extensiver Recherche das erzählt, was die Fakten verschweigen. In „Nietzsche’s Kisses“ etwa (2006) schlüpft er ins Bewusstsein des sterbenden Philosophen und zeigt uns die Verlorenheit seines verwirrten Geistes. Die formal komplex gebaute Handlung wechselt dabei beständig zwischen drei Erzählperspektiven: Sanatoriumseindrücke in der Ich-Perspektive, Traumsequenzen in der zweiten Person und historische Vignetten in der dritten Person ergeben einen aus Fragmenten zusammengesetzten Zyklus, der ebenjene Selbstentfremdung performiert, die Gegenstand der Nietzsche‘schen Philosophie ist. In „Anxious Pleasures“ (2007 erschienen) erweckt Lance Olsen eine weitere Ikone der literarischen Moderne zu neuem Leben: Franz Kafkas Held Gregor Samsa, dessen Verwandlung er hier aus unterschiedlichen und vermeintlich minoritären Perspektiven – so etwa aus der von Gregors Nachbar – reimaginiert. Wild, phantasmagorisch und multiperspektivisch gebiert sich auch der Roman „Calendar of Regrets“ (2010), der seine erzählerischen Fäden ausgehend vom Gifttod des Niederländischen Malers Hieronymus Bosch entspinnt: Jedes der zwölf Kapitel, jeder der zwölf Handlungsstränge ist in je eigenem Ton und typografischem Stil gehalten; zugleich werden Zeiten und Räume durchquert. Wir begegnen einem gestrandeten Engel, dem rätselhaften Mann mit geliehenen Organen, einem Fotografen in Burma. Es geht um Reisen und Erinnerung, um Originalität und den Ursprung von Geschichten, die unendlich zirkulieren, da alles zu einer Geschichte werden kann: „Look closely“, so heißt es bereits in der ersten Szene, „everything is webbed with everything, existence an illuminated manuscript you walk through.“ Kritiker monieren, dies sei alles nur ein Spiel mit der Beliebigkeit: verliebt in die Oberfläche, ignorant gegenüber den je spezifischen historischen und kulturellen Details. Doch Lance Olsen schreibt an: gegen das Vergessen, das unsere Kultur heimsucht; gegen die vorgefertigten Muster, die unsere Sicht auf die Welt als ein vielfältiger Text verengen; gegen den Tod, der alles unterminiert. Davon zeugen die beiden Bücher, die während seiner Zeit an der American Academy in Berlin entstanden: „There“ (2014) – ein collageartiges „trash diary“ über den Berliner Aufenthalt, das zugleich wie eine Zeitmaschine Samuel Beckett mit Ben Marcus, David Bowie mit Bhutan kurzschließt – sowie der jüngste Roman „Theories of Forgetting“ (2014). Ausgehend von einem der berühmtesten Werke des Land-Art-Künstlers Robert Smithson – „Spiral Jetty“ –, verwebt der Roman drei Handlungs- und Zeitebenen ineinander: den Versuch einer Filmemacherin namens Amelia, ihren Dokumentarfilm über Smithson fertigzustellen; die Geschichte ihres Ehemannes Hugh und seines langsamen Verschwindens nach Amelias Tod; sowie die Fußnoten, die Amelias Tochter – eine in Berlin ansässige Kunstkritikerin – in jenes Manuskript einfügt, das sie nach dem Tod ihres Vaters in dessen Besitz gefunden hat. Zugleich ist jede Seite typografisch in zwei Hälften geteilt, auf denen die unterschiedlichen Erzählstränge sich in gegenläufiger Bewegung vollziehen: eine Spirale. Immer wieder legt Lance Olsen also besonderes Augenmerk auf die Form. Erst in und mit ihr erfüllt sich in seinen Augen die Möglichkeit eines innovativen zeitgenössischen Erzählens – die Möglichkeit, so Lance Olsen, die Gegenwart immer wieder neu zu beschreiben. „Eine der Aufgaben des Innovativen“, so der Autor, „ist es, die dominante Wiedergabe-Kultur von ‚Realität’ herauszufordern und uns daran zu erinnern, dass es immer auch andere Wege gibt, den Text unserer Texte, den Text unserer Leben zu konstruieren. … Im Rahmen des Innovativen zu schreiben, ist also mehr als nur eine kreative Wahl. Es ist eine ethische Pflicht.“ // (Für die Übersetzerin ins Englische: „One of the jobs of the innovative is unceasingly to challenge the dominant cultures’ narrativization of ‚reality’, to remind us that thare are always other ways to construct the text of our texts, the texts of our lives. … To write within the innovative, then, is much more than a creative choice. It’s an ethical imperative.“ (Interview mit Lance Olsen in: HTMLGiant, 9.4.2012. Übersetzung: Claudia Kramatschek).

Text: Claudia Kramatschek
Kamera/Schnitt: Uli Aumüller, Sebastian Rausch

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