Luc
Ferrari
Luc Ferraris (1929–2005) Aufenthalt in Berlin 1967 markierte eine wichtige Zäsur auf seinem kompositorischen Weg. Unmittelbar vor den gesellschaftlichen Erschütterungen, die 1968 mehr als deutlich werden sollten, erfuhr sich auch der Komponist im Auf- beziehungsweise Umbruch.
Ferrari beschäftigte sich 1967 nicht nur mit Musik, sondern auch mit dem Medium Film. Durch den Kontakt zu Hansjörg Pauli, der die Musikabteilung des NDR-Fernsehens leitete, erhielt er den Auftrag, Musik für einen Film über den Künstler Jean Tinguely zu komponieren, sowie die Möglichkeit, einen eigenen Fernsehfilm mit dem Titel Les jeunes filles zu drehen. Seit 1965 arbeitete Luc Ferrari bereits an der Doku-Filmreihe „Les Grandes Répétitions“, in der er gemeinsam mit dem Regisseur Gérard Patris fünf Musikerpersönlichkeiten porträtierte: Olivier Messiaen, Edgar Varèse, Karlheinz Stockhausen, Hermann Scherchen und Cecil Taylor.
Da der „menschliche Zustand“ untrennbar mit den gesellschaftlichen Verhältnissen verknüpft ist, arbeitete Ferrari auch in Berlin an seiner 1965 begonnenen sechsteiligen Werkreihe „Société“ weiter, in die er ebenso seine filmische Milieustudie Les jeunes filles eingliederte und die Arbeiten enthält, die nur aus konzeptuellen Spielanweisungen bestehen. Das zweite, 1967 entstandene Stück dieser Reihe hingegen besitzt eine auskomponierte Partitur, sowie einen ungewöhnlichen Zusatztitel: Et si le Piano était un Corps de Femme – Und wenn das Klavier der Körper einer Frau wäre. Es ist ein Stück mit musiktheatralen Elementen, das auf mehr oder weniger absurde Weise Geschlechter-Stereotypen darstellt, wobei der Flügel symbolisch als Körper der Frau fungiert, der von männlichen Musikern bedrängt und traktiert wird.
Parallel dazu entwickelte Ferrari 1967 die Komposition Interrupteur für Kammerorchester, in der er sich im Gegensatz zu der inSociété II zum Ausdruck kommenden Metaphorik mit rein musikalischen Aspekten beschäftigt – vor allem mit dem Parameter der Dauer, der mittels parallel geführter linearer Klangverläufe als statisch wirkende Klangfläche erfahrbar wird, die allerdings regelmäßig durch kurze Klangimpulse unterbrochen ist.
Einen erneut ganz anders gelagerten musikalischen Ansatz verfolgt die Komposition, die zu Ferraris bekanntester werden sollte. In dem Tonbandstück Presque rien no. 1 „Le lever du jour au bord de la mer“ lebte Ferrari radikal das aus, was zum Bruch mit der orthodoxen Ideologie der Musique Concrète geführt hatte: sein Interesse, akustische Aufnahmen, die der Natur sowie der gesellschaftlichen Realität entstammen, nicht in der Weise zu bearbeiten, dass die Quellen ihre ursprüngliche Signifikanz verlieren und zu abstraktem Klangmaterial werden. Stattdessen produzierte Ferrari geradezu das Gegenteil: eine minutiös gestaltete Inszenierung bestehender Wirklichkeiten – im konkreten Fall den Tagesanbruch in einem kleinen Fischerdorf in Kroatien. Obwohl das Stück erst 1970 auf einer Schallplatte der Deutschen Grammophon veröffentlicht wurde, die sich enttäuscht über diese Musik ohne Musik zeigte, begann die Arbeit an Presque Rien 1967 während eines Ferienaufenthalts in der Zeit von Luc Ferraris Berliner Stipendium.
Text: Thomas Groetz