Dänemark, Literatur, 2019

Madame
Nielsen

Foto: Sofie Amalie Klougart

„Einem Menschen einen Namen zu geben, ist eine gewaltige Angelegenheit – zugleich Gewaltakt und ein Akt der Schöpfung“ sagt Madame Nielsen, die Künstlerin, Musikerin und Schriftstellerin, die früher unter dem Namen Claus-Beck Nielsen bekannt war, und 1963 in Dänemark geboren wurde. Claus-Beck Nielsen durchlief keinen klassischen Bildungsweg, war dafür aber ein eifriger Leser, veröffentlichte später preisgekrönte Romane und unter dem Pseudonym Anders Claudius West auch Gedichte. 2001 wurde er für tot erklärt. Der namenlose Mensch, der übrig blieb, wurde zum Direktor eines Unternehmens namens Das Beckwerk ernannt und führte in dieser Eigenschaft ein Jahrzehnt lang verschiedene Experimente durch, um herauszufinden, was es bedeutet, ohne eine ›Identität‹ zu leben – beziehungsweise ohne einen Namen und dessen Bürde.

Der Namenlose lebte zwei Monate auf der Straße, drei Monate in einem Lagerraum und übernahm schließlich die Wohnung und das Leben eines Semiotik-Professors im Forschungsurlaub. „Ein Jahr lang trug ich seine Kleidung, seine Unterwäsche, benutzte seinen Schreibtisch, empfing seine Korrespondenz usw. Ich ging sogar für ihn wählen.“ Währenddessen schrieb der Namenlose weiter und befragte durch Sprache das ewig Unergründliche, das wir Identität und Zugehörigkeit nennen. Publikationen wie Selvsmordsaktionen (Die Selbstmordmission, 2005) und Store Satans Fald (Der Fall des großen Satans, 2012) sind zugleich Autobiografie und Fiktion, politisches Manifest und philosophische Abhandlung. Dichte Sätze erforschen das Wesen der Duplizität. Die Ich-Erzähler haben instabile Persönlichkeiten, vielleicht sind sie der Autor selbst, vielleicht aber auch nicht. Die Bücher spielen an verschiedenen Orten in der Welt und rufen uns dazu auf, Nationalität und Demokratie in ihrer Begrenztheit zu erfassen – letztere vor allem dann, wenn der Westen sie in andere Länder exportiert. Sowohl die Bücher als auch die Experimente von Das Beckwerk sind (möglicherweise) Formen der Konzeptkunst.

2011 wurden Das Beckwerk und sein namenloser Direktor mit einer aufwändigen Beerdigung, inspiriert von einem altrömischen Totenritual, zur letzten Ruhe gebettet. Bald darauf erschien Beyond Identity, ein Buch ohne Autor, in dem das gesamte Das Beckwerk-Unterfangen dokumentiert ist.

Danach geschah eine Weile nichts. „Ein Jahr lang trat ich nicht mehr öffentlich auf, ich musste ein neues Leben, eine neue Form der Kunst für mich finden. Es war ein sehr düsteres Jahr, […]. Irgendwann zog ich das Kleid der Mutter meines Sohnes an. Ich dachte, hey, du bist nicht mehr der Jüngste, ab jetzt wirst du nur noch ein dürrer Mann mittleren Alters sein, und als Frau siehst du viel schöner aus! Seitdem bin ich Madame Nielsen, und ich hoffe, dass sich bis zu meinem Tod nichts mehr daran ändern wird.“

2014 erschien Der endlose Sommer (dt. 2018). Der Roman erzählt von der Liebe einer Dänin zu einem sehr viel jüngeren portugiesischen Künstler. Die Sätze entfalten sich wie eine Symphonie, voller funkelnder Details sehnen sie etwas herbei, das keine endgültige Form annehmen will: „Ich möchte den Menschen als Potenzial begreifen, ich will nicht der werden, ›der ich in Wirklichkeit bin‹ oder der eine, der ich sein will, ich möchte so viele meiner Potenziale ausleben wie möglich.“

Text: Priya Basil
Übersetzung: Gregor Runge

Vergangen

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