Malek
Alloula
Erst kamen die Phönizier, dann die Römer, dann die Vandalen und die Byzantiner, dann die Araber und die Türken. Sie alle veränderten, wie im gesamten Maghreb, über Jahrtausende hinweg die Kultur und die Lebensweise der angestammten Bevölkerung Algeriens: Die Berber wurden islamisiert und christianisiert, latinisiert und arabisiert. Am Ende dieses Prozesses – der nicht nur ein Verlust, sondern auch eine Bereicherung war – galt der Maghreb als kulturelle Schnittstelle „par excellence“: ein Tor zwischen Orient und Okzident, Afrika und Europa.
Dann aber kamen die Franzosen; 1830 erobern sie u.a. Algier und Oran. Sie sind überzeugt davon, ein Niemandsland zu betreten, und beginnen das Territorium, das sie von Barbaren und Wilden besiedelt wähnen, zu „kultivieren“. Die Folgen der französischen Kolonialherrschaft sind – man lese dafür nur wieder einmal Pierre Bourdieus „Algerische Skizzen“ – katastrophal: Rassengesetze, Landnahme im großen Stil, Enteignung, Vertreibung, Zerstörung alter Stammes- und damit alter Sozialstrukturen. Sprich: ein Land wird vernichtet. Hungersnöte und Epidemien lassen die muslimische Bevölkerung Algeriens zwischen 1867 und 1873 um 20%, von 2,6 auf 2,1 Millionen schrumpfen. Da zugleich europäische Landarbeiter fehlen, macht man sich die Algerier als Arbeitssklaven fügbar: durch eine koloniale Schulbildung, die vorgibt, den „Eingeborenen“ in seiner „Eigenart“ zu schätzen – seinen begrenzten Verstand also mit keinerlei Wissen zu überfordern. Das Arabische wird zur Fremdsprache, das Französische zur Nationalsprache erklärt. Als Malek Alloula – der 1937 in Oran zur Welt kommt – in den 50er und 60er Jahren zur Schule bzw. an die Universität geht, haben die Kolonialisten ihr Ziel erreicht: Das kollektive Gedächtnis Algeriens an die eigene kulturelle Vergangenheit ist ausgelöscht. In Alloulas Fall gesellt sich ein zweiter Verlust hinzu: Mitte der 60er Jahre geht der studierte Literaturwissenschaftler und Absolvent der École Normale Supérieure nach Paris ins Exil, wo er noch heute lebt. Erst vor dem Hintergrund dieses zweifachen Verlusts ist die grundlegende Geste zu verstehen, die sein gesamtes Schaffen kennzeichnet: Ob als Lyriker, Prosaautor oder als Verfasser poetisch-philosophischer Essays – immer kehrt er zurück zu den „Ruinen“ der Kindheit und seiner Heimat, um qua Worte das Vergangene wiederauferstehen zu lassen. In der autobiografischen Novellensammlung „Le Cri de Tarzan. La nuit dans un village oranais“ (1997; 2008 wiederaufgelegt) ruft er Szenen aus seiner Kindheit wach – allem voran den Besuch einer Film-Vorführung von „Tarzan“, dessen ungebändigter Schrei sich ihm ins Gedächtnis einbrennt – oder aber das Rasiermesser des Vaters mit dem Aufdruck „SOLINGEN GERMANY“. Der in 33 Fragen rund um die Nahrungsaufnahme kreisende Prosa-Band „Les Festins de l’Exil“ (2003) beschwört den Geschmack und die Gerüche der Berber-Kultur und zugleich die Gastfreundschaft als deren wichtigstes Kennzeichen herauf. In „Paysages d’ un retour“ (2010) erzählt er – ausgehend von aktuellen Arbeiten des französischen Fotografen Pierre Clauss – die fiktive und doch real grundierte Erzählung eines Exilanten, der in sein algerisches Heimatdorf zurückkehren will und dort nichts vorfindet außer Trümmern und ein Land, das alles Alte um des Neuen willen zerstört. Gegen die Ausradierung der eigenen kulturellen Wurzeln, die nicht zuletzt die Algerier selbst betreiben, richtet sich auch sein Lyrik-Band „Approchant du seuil ils dirent“ (2010). Alloula erinnert hier an die spirituelle Tradition der heiligen Marabouts, die den Islamisten ein Dorn im Auge ist. Diese hatten übrigens 1994 Alloulas Bruder Abdelkader – damals einer der führenden Intellektuellen des Landes – ermordet. Alloula selbst hatte sich zwar schon 1966 in der kulturkritischen Zeitschrift „Souffles“ gegen die Vereinnahmung der Dichtung durch Politik ausgesprochen. Dennoch darf sein Werk als eine vehemente Wiedergutmachung an den Leerstellen der bis heute verzerrten und verfälschten Geschichte seines Landes verstanden werden. Dahingehend zielt vor allem jener frühe Band, der Alloula auch in hiesigen Kreisen bekannt gemacht hat: „Haremsphantasien. Aus dem Postkartenalbum der Kolonialzeit“ (1981; dt.:1994). In diesem Band interpretiert er in einer psycho-analytischen Lesart und unter Bezug auf Roland Barthes’ „Die helle Kammer“ Postkarten aus den kolonialen Fotostudios im Algerien der 1920er Jahre. Sie zeigen halbnackte Frauen in lasziven Harems-Posen – gaben aber vor, am Projekt der umfangreichen ethnographischen Erschließung der Kolonien teilzuhaben. Alloula dechiffriert diese Inszenierungen in einer so luziden wie eleganten Sprache als „symbolische Rache“ der Kolonialherren an einer Gesellschaft, die – verkörpert durch die Frauen – den fremden Eindringling ausschließt und die Legitimation seiner Mission in Zweifel zieht. Tatsächlich ist Alloula noch als Prosa-Autor Dichter. Immer aber ist seine Sprache bei aller Sinnlichkeit zugleich auch präzise wie ein Seziermesser, mit dem er – nie mit Pathos, dafür oft mit liebevoller Ironie – die Sedimente des Vergangenen abträgt, das sich bis in die tiefsten Schichten seines Körpers abgelagert hat.
Text: Claudia Kramatschek