Argentinien, Literatur, 2024, in Berlin

María
Negroni

Photo: Diana Pfammatter

María Negroni, eine der wagemutigsten, originellsten und produktivsten SchriftstellerInnen im heutigen Argentinien, zählt zu einer überschaubaren Gruppe von DichterInnen, RomanautorInnen und EssayistInnen, die sich über die überraschend robusten und engen ästhetischen Grenzen der etablierten nationalen literarischen Tradition hinwegsetzen. Negronis Schreiben erweitert unser Verständnis von Formen, Archiven und schriftstellerischen Praktiken, bringt sie mit Musik, bildender Kunst, Naturwissenschaften, urbanen Streifzügen sowie der Geschichte des politischen Aktivismus und des Feminismus in Verbindung. Ihr besonderes Interesse gilt der Erforschung von Grenzen der poetischen Sprache, in der Absicht, deren ungewisses Potenzial vor, außerhalb, unter und nach der Seite, dem Buch oder gar dem literarischen Genre als soziales Ereignis offenzulegen. Zweifellos hat Negroni in den letzten drei Jahrzehnten eines der beständigsten und einzigartigsten literarischen Vorhaben in der lateinamerikanischen Literatur verfolgt.  

Negronis Bücher sind als Orte des radikalen Experimentierens und der Gattungsverschiebung angelegt. In ihren Romanen strukturieren lyrische Musikalität und Metaphernreichtum die Handlung, so wurde El corazón del daño (Der Kern des Problems, 2021) in epigrammatischen Fragmenten geschrieben, die in der prosodischen Logik des Langgedichts ihren Ausdruck finden. Ihre Essays, von Museo negro (Schwarzes Museum, 1999) bis El arte del error (Die Kunst des Irrtums, 2016), gehen ästhetischen und kulturellen Fragen nach, formulieren Texte und Traditionen um, und laden die Lesenden ein, sich auf Formen des Wissens und Erlebens einzulassen, die von Vorstellungskraft und sinnlichen Erfahrungen geprägt sind. Negronis wohlüberlegte, präzise, subtile Lyrik (die nie überladen oder überschwänglich ist) befragt die Zäsur, an der sich Subjekt und Sprache gegenseitig aushebeln, da ihrer Ansicht nach „das Haus der Poesie aus absoluter und düsterer Eindringlichkeit besteht“ (El testigo lúcido, Der luzide Zeuge, 2003). Ihre Gedichte und ihre lyrische Prosa lauschen den Echos jener Stimmen, die sie heimsuchen und deren phantasmatische Präsenz den ästhetischen Raum absteckt, in dem sich Negronis Literatur zu Hause fühlt: Mary Shelley, Emily Dickinson, Arthur Rimbaud, Franz Kafka, Jorge Luis Borges, Marianne Moore, H.D., John Cage, Alejandra Pizarnik, Elizabeth Bishop, Sylvia Plath, Susana Thénon, Anne Sexton, Juan Gelman, Adrienne Rich, Susan Howe, Louise Glück und viele andere mehr.  

Ihre vermutlich originellsten Bücher sind die hybriden, seltsamen, bezaubernden und schwer einzuordnenden Projekte, Artefakte, Kästen, Vitrinen und Wunderkammern, in denen archaische, winzige, ungehorsame, queere oder deplatzierte Objekte, Bilder und linguistische Formen präsentiert werden; es sind Galerien voller exzentrischer Stücke, die sie sammelt, umsortiert und mit neuem Sinn füllt. In einigen von ihnen, wie Pequeño mundo ilustrado (Kleine illustrierte Welt, 2021), Archivo Dickinson (2017), oder Objeto Satie (2018), schafft sie nicht einfach nur vielfältige und heterogene Kollektionen, sondern ästhetische, imaginierte Archive verschiedener von ihr verehrter VorgängerInnen. Anstatt diese HeldInnen der Moderne auf einen Sockel zu stellen oder zu vergöttern, dislozieren diese ausgeklügelten formalen Experimente ihre AutorInnen-Figuren und öffnen einen Raum der Interaktion zwischen dem geisterhaften Nachleben der Avantgarde und zeitgenössischen Erkundungen des Potenzials ästhetischen Experimentierens. 

Von all den KünstlerInnen der Moderne, die Negroni sich zu eigen gemacht und neu erfunden hat, um neue verbale und visuelle Lyrik nach ihren eigenen Vorstellungen zu schaffen, ist es der New Yorker Künstler und Filmemacher Joseph Cornell, der ihre Auffassung der literarischer Form am stärksten beeinflusst hat – und dessen konzeptuelle Kunst und urbaner Gestus ihr geholfen haben, den einzigartigen, dezentralen und dezentralisierenden Platz einzunehmen, den sie heute in der Literatur Argentiniens genießt. In Elegía Joseph Cornell (2013) verwendet sie unterschiedliche Aspekte seiner Arbeiten, die sie übersetzt, umschreibt, sich aneignet, illustriert und einem neuen Zweck zuführt: Szenen aus Cornells Filmen, die aus gefundenen Aufnahmen entstanden sind (darunter ein wiederkehrendes Fotogramm eines langhaarigen, Godiva-ähnlichen Mädchens auf einem Pferd); seine hölzernen Schaukästen mit surrealistischen, nicht-narrativen Kindheits-, Vogelhaus- und Hotelszenen; seine Mail Art; seine Biografie und seine vom Zufall gesteuerten urbanen Streifzüge durch Trödelläden, auf der Suche nach vergessenen, ausgedienten, kaputten Objekten, ausrangierten Fotografien, und schierem Abfall, in dem ästhetisches Potenzial schlummert. Negroni berichtet, dass sie sich in die Art verliebte, wie Cornell alles, was New York weggeworfen hatte, zu „Kästen machte, die er, herumwandernd der aristotelischen Schule folgend, als poetische Theater einrichtete, die man bewohnen konnte, Orte, in denen ich bleiben und leben könnte“. In Elegía (aber auch in vielen anderen Büchern und Projekten davor und danach) macht Negroni Cornells Praxis der Intervention und Wiederverwendung von gefundenen, ausrangierten Objekten zur Grammatik ihrer eigenen poetischen Unternehmungen; zu einem melancholischen Konstruktionsprinzip der Montage und des Umschreibens, das sie immer wieder in ihren außergewöhnlichen Romanen, Gedichten, Übersetzungen und ästhetischen Untersuchungen literarischer Formen aktiviert. 

Text: Mariano Siskind 
Übersetzung: Anna Jäger 

Vergangen

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