Russ. Föderation, Literatur, 2024, in Berlin

Maria
Stepanova

Photo: Diana Pfammatter

„Mad Russia hurt me into poetry“, so die 1972 in Moskau geborene Maria Stepanova, eine große russische Dichterin und eine kraftvolle Stimme der Freiheit. Sie gehört zu jener Generation, deren Erwachsenwerden mit der Spätzeit der Sowjetunion zusammenfiel. Der Zusammenbruch der sowjetischen Institutionen war für sie ein Aufbruch. Sie studierte am Gorki-Institut, 2000 erschien ihr erster Gedichtband, Dutzende sind inzwischen gefolgt. Ihr Wiederaufgreifen der Balladenform – überhaupt: ihre Virtuosität in der Handhabung poetischer Mittel, ihr souveräner Rückgriff auf literarische Traditionen und ihr weit über die russische Sphäre hinausreichender intellektueller Horizont brachten ihr bald Renommee und Preise ein. Unter Putin erlebte sie, wie die Zukunft zunächst eingefroren wurde, bevor das Zerbröseln begann. Es war, sagte sie einmal, als würde „eine jahrzehntelang in den hintersten Winkeln des Bewusstseins vergrabene Vergangenheit plötzlich als Parade der toten Dinge“ durch die Straßen ziehen. 

Angesichts der wachsenden patriotischen Beschwörungen und einer zunehmenden Aushöhlung der Sprache im öffentlichen Raum gründete sie 2007 die unabhängige Online-Zeitschrift OpenSpace.ru, 2012 dann die Nachfolge-Plattform colta.ru, nicht zuletzt auch um die Betrachtung der Vergangenheit und der Gegenwart den imperialen Klauen zu entreißen. Mit dem Roman Nach dem Gedächtnis (dt. Suhrkamp, 2018) gelang ihr der internationale Durchbruch.

Die Arbeit am Gedächtnis durchzieht ihr Werk. Ihre Dichtung, die eine Art „Zeit in der Zeit“ erschafft, bietet Klängen, Rhythmen, Bildern und Erfahrungen aus allen Welten und Zeiten Raum; sie unterminiert jedes Pathos mit Humor und Sarkasmus, mit lyrisch Liedhaftem und koboldeskem Spiel. 

„Immer wieder betrachte ich Fotos aus diesen nie endenden Tagen des Ukraine-Krieges”, sagte sie 2022, „eines Krieges, der so unvorstellbar ist, dass man nicht glauben kann, dass das, was geschieht, wirklich ist.“ In ihren Texten konzentriert Stepanova alle Sinne auf „das, was geschieht“. „Vieläugig“ und „vielstimmig“ gelingt es ihr, der Wirklichkeit nicht auszuweichen und ihr gleichzeitig nicht zu verfallen. Das ist (ihre) große Kunst. 

Mit enormer Sprachkraft überträgt Olga Radetzkaja die Werke dieser wohl innovativsten, produktivsten russischen Autorin ins Deutsche. Neben dem Roman, für den sie beide gemeinsam 2018 den Brücke Berlin-Preis erhielten, übersetzte Radetzkaja auch die Gedichtbände Der Körper kehrt wieder, Mädchen ohne Kleider und Winterpoem 20/21. Im Herbst 2024 erscheint die Novelle Absprung, in der eine Dichterin auf dem Weg zu einem Festival verschwindet – ein weiterer Widerstandsakt gegen das, was geschieht?  

Maria Stepanova hat zahlreiche internationale Auszeichnungen erhalten, darunter zuletzt 2023 den Berman Literature Prize, Stockholm, und den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. 2023/2024, war sie Fellow am Institute for Ideas and Imagination in Paris, 2024/2025 ist sie Fellow des Berliner Künstlerprogramm des DAAD. 

Text: Marie Luise Knott 

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