Marie
Losier
Die Filmemacherin und Kuratorin Marie Losier inszeniert eigenwillige dokumentarische Künstlerporträts von Helden, persönlichen Freunden und Idolen der Underground-Szene. Ihre Arbeiten sind weltweit in bedeutenden Museen sowie auf renommierten Festivals, im Kino und in Galerien zu sehen. Von der „Tate Modern“ bis zum „Centre Pompidou“, vom Rotterdam Filmfestival bis zur der „Cinémathèque française“ zeigen alle wichtigen Museen und Festivals regelmäßig ihre Filme. 2006 wurde sie zur „Whitney Biennale“ in New York eingeladen. Jüngst widmeten ihr die Berlinale, das „Harvard Film Archive“, „Cornell Cinema“ sowie die Filmfestivals in Seattle, Bafici und Gijon Retrospektiven.
Marie Losier wurde 1972 in Frankreich geboren, lebt aber seit siebzehn Jahren in New York. Sie studierte zunächst amerikanische Literatur in Paris und anschließend Malerei am Hunter College in New York. Seit 2000 ist sie verantwortlich für das Filmprogramm der „Alliance Française“ in New York. Außerdem gestaltet sie das Programm von zwei weiteren Kinos in New York City und doziert als Künstlerin an mehreren Universitäten.
Vor allem Avantgarde-Regisseure wie Mike und George Kuchar, Guy Maddin, Richard Foreman, Ken Jacobs und Tony Conrad porträtierte Marie Losier in ihren bisherigen Arbeiten. Ihre Protagonisten loben sie überschwänglich. Als „dokumentarischen Fellini“ bezeichnet sie der Perfomancekünstler und Musiker Genesis Breyer P-Orridge. Guy Maddin nennt Marie Losier die derzeit „spritzigste und psychologisch genaueste“ Porträtistin im Filmbereich. „Niemand macht Filme wie Marie, Edith Sitwells innere Tinkerbell!“
Verspielt und auf traumhafte Weise nähert sich Marie Losier den von ihr porträtierten Künstlern. Klassische Interviewsituationen meidet sie. Manche ihrer Inszenierungen sind ebenso bizarr wie anrührend: Eine Frau gebiert ein Paar Hände. Eine Zeichentrickfigur probiert vergeblich ihre Faust zu verschlingen. Zwanzig Leute klettern durch einen Topf mit 280 Pfund Spaghetti. Gleichzeitig ist Marie Losiers Liebe zu den Anfängen des Kinos unübersehbar. Oft verwendet sie eine klassische 16-mm-Kamera für ihre Filme, zitiert frühe optische Tricks genauso wie die visuellen Extravaganzen des Undergroundfilms. Das Berliner Institut für Film und Videokunst „Arsenal“ begleitet und fördert Marie Losiers Schaffen seit 2007. Zwei ihrer Filme entstanden im Auftrag des „Arsenals“. Sämtliche ihrer Filme befinden sich in seinem Verleih.
Die ungewöhnliche Liebesgeschichte von Genesis Breyer P-Orridge und seiner Lebens- und Kunstpartnerin Lady Jaye fängt Marie Losier in The Ballad of Genesis and Lady Jaye (2011) ein. Durch Schönheitsoperationen beginnen die beiden „eins zu werden“. Beeinflusst von Brion Gysins und William Burroughs „Cut Ups“ wollen sie ihre einzelnen Identitäten zugunsten einer neuen, dritten auflösen. „Mein Projekt hat nichts mit Gender-Themen zu tun“, erklärt P-Orridge. „Der Körper ist nur der Koffer, in dem wir umhergetragen werden. Pandrogynie spielt sich ausschließlich im Denken, im Bewusstsein ab.“ Diese Radikalität transportiert Marie Losier in ihrer dokumentarischen Montage von P-Orridges O-Ton und unterschiedlichstem visuellen Material. Als einen Waldbrand beschreibt die Filmemacherin ihre Narration. Ein schnelles und wildes Patchwork, das so die Theatralik und Dynamik im Leben des Künstlerpaars auf einer anderen Ebene abbildet. Neben seiner Grenzen überschreitenden Perfomancekunst ist P-Orridge vor allem als einer der musikalischen Wegbereiter von Acid House und Techno bekannt. Marie Losiers erster Langfilm feierte seine Premiere auf der Berlinale und gewann dort gleich zwei Preise, den „Teddy“ als bester Dokumentarfilm sowie den „Caligari Filmpreis“. Er lief in Deutschland, Frankreich, Kanada und den USA im Kino sowie auf weiteren 63 Festivals und erhielt zahlreiche Auszeichnungen.
Auf andere Weise vielfältig ist auch das Werk von Tony Conrad, den Marie Losier in ihrem Porträt als Tony Conrad, DreaMininmalist (2008) betitelte. Der Amerikaner ist sowohl Avantgarde-Filmemacher, Videokünstler, Musiker, Komponist, Klangkünstler, Dozent und Autor. Er ist ein Weggefährte von John Cale und Lou Reed. Sein berühmtestes Film The Flicker (1966) sorgte bei der ersten Vorführung für epileptische Anfälle im Publikum. Marie Losier zeigt dieses Multitalent etwa als im Schwarz schwebendes, Grimassen schneidendes Gesicht oder beim Hüpfen auf dem Bett, während er eine Mini-Geige streicht.
In Berlin möchte Marie Losier die eineiigen russischen Zwillinge Mascha und Natascha Petschatnikow porträtieren. Ihr Privatleben und ihr Werk sind derart verwoben, dass sie eine Person zu sein scheinen. Außerdem plant Marie Losier ein an den Filmpionier Georg Wilhelm Pabst angelehntes Werk. In Zusammenarbeit mit der Schauspielerin und Regisseurin Susanne Sachsse, Vaginal Davis, Marc Siegel und der Sängerin Peaches will die Filmemacherin sowohl dem Stummfilm als auch Musicalfilmen aus den fünfziger Jahren huldigen.
Text: Maike Wetzel
2011 Byun, Objet Trouvé (Kurzfilm, 16 mm, 7’) mit Byun Chong
2011 The Ballad of Genesis and Lady Jaye (Dokumentarfilm, 16 mm, 72’)
2010 Cet Air La (Kurzfilm, 16 mm, 3’) mit April March und Julien Gasc
2009 Slap the Gondola! (Kurzfilm, 16 mm, 15’) mit April March, Tony Conrad und Genesis P-Orridge
2008 Tony Conrad, DreaMininmalist (Kurzfilm, 16 mm, 27’)