Maryanne
Amacher
Ein Phänomen, das Archive insgesamt so faszinierend erscheinen lässt, zeigt sich beim Archivmaterial des Berliner Künstlerprogramms (BKP) zu Maryanne Amacher par excellence: Es gibt nie nur einen Erzählstrang. Lücken, Ungereimtheiten, verlorene und vervielfältigte Dokumente, private Notizen, falsche Datierungen und widersprüchliche Darstellungen erzeugen eine Vielzahl von Narrativen und Möglichkeiten, Leben und Werk der US-amerikanischen Komponistin und Installationskünstlerin zu präsentieren. So lassen sich Archivfiktionen des Dazwischen schaffen, die dem simultanen Charakter und der grundlegenden Logik von Amachers Praxis entsprechen. Daher verfälschen diese Fiktionen auch nicht den Bericht über ihren Aufenthalt in Berlin, sondern ziehen eine Linie von ihrem physischen Dasein in all seiner gelebten Komplexität zu ihrem Werkkorpus.
Von Januar 1986 bis April 1987 war Amacher Gast beim BKP. In dieser Zeit arbeitete sie an technologiegestützten Werken, in denen sie verschiedene Orte und Räume klanglich vernetzte, die Gleichzeitigkeit von Klang in Szene setzte sowie Mauern und geografische Trennungen durchbrach, um etwas zu erschaffen, das man „spatial sound sculptures“ nennen könnte. Damit lässt sich die Wahrnehmung von Position und Dauer beim Zuhören modifizieren und eine, wie sie es nannte, „long distance music“ erzeugen, die kaum Hörbares in den Vordergrund stellt und Entferntes nah heranholt. Von ihren Hauptwerken, die vor ihrer Zeit in Berlin entstanden waren, City Links (1967–1980), Music for Sound – Joined Rooms und die Mini Sound Series, wurden die beiden letztgenannten in der daadgalerie zum Ende ihres Aufenthalts in der Mini-Klangserie The Music Rooms neu interpretiert und aufgeführt. Diese Arbeiten stellen nicht die musikalische Gestaltung als solche in den Vordergrund, sondern ermöglichen es, dem Klang dabei zuzuhören, wie er neue Dimensionen schafft. Sie können als Schritt in Richtung eines anderen Projekts gehört werden, an dem sie während ihres Aufenthalts arbeitete, das aber nie fertiggestellt wurde: Intelligent Life, eine Komposition, die simultan im Fernsehen und Radio zu sehen bzw. zu hören sein sollte.
Die Verbindung mit dem BKP blieb auch nach ihrem Aufenthalt erhalten, und Amacher wurde 2006 für einen kürzeren Besuch erneut eingeladen, in dessen Rahmen sie unter anderem die Ausstellung Gravity, Music for Sound Joined Rooms Series in der Galerie singuhr zeigte. Ihr Einfluss auf und ihre Bedeutung für die deutsche Musik- und Klangkunstwelt belegte auch Intelligent Life, eine posthume Ausstellung mit Workshops und Rechercheseminaren, die Elemente dieses nie vollständig verwirklichten Projekts zusammenführte. Sie fand in der daadgalerie statt und definierte ihre Arbeit als radikale „künstlerische Forschung“, lange bevor dieser Begriff sich etablierte.
In der Pressemitteilung zu Intelligent Life wird sie als „Künstlerin für KünstlerInnen“ bezeichnet, was im positiven Sinne das Interesse ihrer KollegInnen an ihren kompositorischen Prozessen und den Forschungsaspekten ihrer Arbeit hervorhebt. Zum anderen beschreibt diese Aussage aber auch die Herausforderungen, vor die Amachers Werk das zeitgenössische Publikum stellt, das Schwierigkeiten hat, die komplexen, relationalen Anforderungen des Werks und die unauflöslich mit ihm verbundene Räumlichkeit zu erfassen, die es hörbar macht.
Text: Salomé Voegelin
Übersetzung: Anna Jäger