Türkei, Film, 2018

Pelin
Esmer

1972 geboren und aufgewachsen in Istanbul, „vermag Licht und Schatten perfekt ins Verhältnis zu setzen“. So der Kritiker Bert Rebhandl anlässlich des Kinostarts ihres Films Watchtower in Deutschland 2014. Sowohl dokumentarisch als auch fiktiv erkundet die Filmemacherin in ihren Kammerspielen die Bedingungen des Zusammenlebens in der gegenwärtigen Türkei.

In dem Melodram Watchtower (2012) sind es zwei isolierte Außenseiter, deren langsame Annäherung zeigt, wie soziale Kontrolle funktioniert und wie sie unterlaufen werden kann. In der dokumentarischen Beobachtung der Proben der anatolischen Dorfbewohnerinnen bei The Play (2005) entsteht ein schonungsloser, jedoch humorvoller feministischer Diskurs. Als Darstellerinnen trauen sich die Frauen häusliche Gewalt, alltägliche Demütigungen und gesellschaftliche Ausgrenzung zu Sprache zu bringen. Im Mikrokosmos eines Istanbuler Wohnhauses erzählt 10 to 11 (2009) vom Aufeinanderprallen der Gegensätze in der Stadt: Tradition und Moderne, Erinnerung und Vergessen, Bewahren und Erneuern.

Neben Regie, Drehbuch, Produktion und Schnitt bei allen ihren Filmen zeigt Pelin Esmer sich im Fall ihrer Dokumentarfilme auch für die Kamera (The Play, The Collector) verantwortlich. Die studierte Soziologin realisierte bislang vier abendfüllende Filme, für die sie mehrfach international ausgezeichnet wurde. Für Watchtower (2012) erhielt sie fünfzehn Auszeichnungen; darunter den Hauptpreis dem International Filmforum in Taschkent, den Regiepreis beim Adana Golden Boll Filmfestival in der Türkei, den Spezialpreis des Nürnberger Filmfestivals und den Jurypreis in Mannheim. 10 to 11 (2009) wurde sechzehn Mal international prämiert. Dazu zählen der Spezialpreis der Jury beim Istanbuler Filmfestival und der Hauptpreis beim Tofifest in Polen. The Play (2005) ist ebenfalls vielfach preisgekrönt. Unter anderem als bester Dokumentarfilm beim Frauenfilmfestival in Créteil.

Pelin Esmer ist eine „Meisterin des minutiösen Erzählens“ (tip Berlin, 16.4.14). Sie entwickelt ihre Handlung plausibel aus den Details der Situationen heraus. Watchtower etwa ist die Geschichte eines zweifachen, radikalen Rückzugs: Was verspricht die junge Seher sich von dem Job als Busbegleiterin an der einsamen Raststätte? Und wieso hat Nihat den Job als Brandwart in einem entlegenen Waldgebiet angenommen? Immer wieder melden sich seine Vorgesetzten über Funk und fragen, ob alles in Ordnung sei. „Ja, alles in Ordnung“, meldet Nihat. Der Zuschauer ahnt: Das Gegenteil ist der Fall. Nihat und Seher haben beide etwas zu verbergen. Sehers Geheimnis findet Nihat im Gebüsch: Sie hat ihr heimlich geborenes Baby dort ausgesetzt. Der Brandwart nimmt Kind und Mutter bei sich auf. Doch Seher will das Kind nicht einmal ansehen. Watchtower erzählt viel über die engen Grenzen, die weiblicher Selbstbestimmung an vielen Stellen in der Türkei gesetzt sind.

Ausgangspunkt für Pelin Esmers Spielfilm 10 to 11 (2009) war die Idee eines besessenen Sammlers von Fundstücken; eine Idee, die sie zuvor bereits dokumentarisch verfolgt hatte. Die Figur des Mithat Bey wird von ihrem 83jährigen Onkel verkörpert, dem auch der Dokumentarfilm zu demselben Thema gewidmet war. Dem Prinzip des totalen Archivs stellt die Filmemacherin die Jagd nach Vergänglichem gegenüber: Der 34jährige Ali ist der Portier von Mithats Mietshaus. Er setzt auf materiellen Besitz und Wohlstand als Wege zum Glück. Als das Gebäude verkauft werden soll, kollidieren die beiden Lebensentwürfe.
Im Dokumentarfilm The Play (2005) verwandelt die Arbeit an einem gemeinsamen Theaterstück neun Frauen. Schullehrer Hüsseyin verbindet die Erzählungen zu einem frechen Schauspiel. Was sich in Arslanköy sonst niemand öffentlich zu sagen traut – das Frauenensemble bringt es pointiert und mit viel Sinn für Humor zur Sprache. Streit bleibt trotzdem nicht aus. Und so steht die Uraufführung im Dorf kurz vor dem Scheitern. „Im Verlauf der Proben verwandeln sich diese scheuen Bäuerinnen zu wunderbaren Schauspielerinnen (…). Anfangs lediglich ein Zeitvertreib, wird das Theaterspielen schnell eine ‚Frage auf Leben und Tod‘, die ihnen Selbstachtung, Anerkennung ihrer Ehemänner und eine große Hoffnung für künftige Generationen einbringt. Vor der Kamera findet eine wahre Revolution statt: friedfertig, gefühlvoll und äußerst fröhlich.“ (Isabelle Regnier, Le Monde)

Text: Maike Wetzel

2017: İşe Yarar Bir Şey / Something Useful
(Farbe, 107‘)

2012: Gözetleme kulesi /Watchtower
(Spielfilm, 1,85:1 DCP/35 mm, Farbe, 100‘)

2009: 11’e 10 kala / 10 to 11
(Spielfilm, HDCAM/ 35 mm, Farbe, 110‘)

2005: The Play
(Dokumentarfilm, 4:3 DigiBeta/16:9 35 mm, Farbe, 70‘)

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