Argentinien, Literatur, 2018

Sergio
Raimondi

Foto: Timo Berger

Wenn die Welt sich ändert, muss sich auch die Literatur ändern. Von diesem Credo aus denkt und schreibt der argentinische Lyriker Sergio Raimondi, der 1968 in Bahia Blanca zur Welt kam. Es weht an diesem Ort ein eher spröder Genius loci: Der nahe gelegene Hafen von Ingeniero White ist einer der Haupt-Seehäfen Argentiniens, dort findet sich zugleich der landesweit wichtigste petrochemische Komplexe. Just aus diesem Genius loci aber zieht Sergio Raimondi seine Inspiration: Schon in seinem frühen Werk „Zivilpoesie“ (2005) nimmt Raimondi – der Zeitgenössische Literatur an der Universidad del Sur von Bahia Blanca unterrichtet – vor allem die sich wandelnde Alltagswirklichkeit Argentiniens in Augenschein.

Programmatisch lautet eines der Gedichte: „Poesie und industrielle Revolution“. Tatsächlich interessiert diesen Dichter vor allem die Frage, wie sich die Industrialisierung und nicht zuletzt auch die damit einhergehende Immigration gegen den Menschen selbst verkehrt haben. Anschauungsmaterial lieferte ihm dafür auch seine Tätigkeit in dem in Ingeniero White angesiedelten Museo del Puerto, das sich der Geschichte der industriellen Hafenarbeiter verschreibt und dem Raimondi 2003 bis 2011 als Direktor vorstand. Sein Werk – als „work in progress“ konzipiert – steht somit in direktem Kontakt mit der Realität. Raimondi wiederum, der nebenbei auch Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Vox Virtual ist sowie Publikationen des Verlages Vox in Bahia Blanca betreut, gilt seit „Zivilpoesie“ als Erneuerer der argentinischen Lyrik. Seine Lyrik darf getrost als Instrumentarium bezeichnet werden, das im Sinne einer politisch engagierten Poesie die sich fortlaufend wandelnde Gegenwart in kühner Notation verzeichnet. In „Für ein kommentiertes Wörterbuch“ (2012) verlässt er zudem den Radius des Lokalen und öffnet den poetischen Radar hin auf die weite Welt zwischen Laos und Libanon, China und Kuba, Hamburg und dem Südatlantik. Der Dichter wird bei ihm in Anlehnung an den von Raimondi zitierten Brecht zugleich zum Forscher – und wie jede gute Forschung erweist sich auch Raimondis Dichtung dabei als neugierig und voller kühler Emphase zugleich. Massengutfrachter treffen hier auf Moluskeln und Michel Foucault; Populationsgenetik und Genfood-Anbau auf Migration und Handel. Raimondi, der Marx ebenso gelesen hat wie Max Weber, richtet sein Augenmerk dabei vor allem auf Hand und Fuß: Dreh- und Angelpunkt seines lyrischen Werks ist stets die Poetik der Arbeit selbst. Es geht um Produktionsbedingungen und standardisierte Arbeitsprozesse, um Normierung und damit auch immer um den Menschen selbst. Der ist hier mal Bürokrat, mal Arbeiter, mal Denker, mal Konsument – vor allem aber und sehr gerne: Revolutionär und subversives Element. Subversiv sind auch Raimondis Gedichte: Meist in langen blockartigen Versen gehalten und alphabetisch wie ein Lexikoneintrag strukturiert, blitzt aus ihnen doch so etwas wie witzige Resilienz. Das beginnt mit den vermeintlich trockenen Titeln – die intellektuelle Traditionen und Diskurse anzapfen, deren anspielungsreiche Wirkmacht vor dem Hintergrund des einstigen Militärregimes in Argentinien gelesen werden muss: „Internationale, Die“ oder „Foucault, Michel“. Das sprachliche Register greift entsprechend die Finger aus nach Außerlyrischem: Fachsprachen und Fachwissen, Gesetzestexte oder Statistiken werden hier zu kühlen Abgesängen des globalen Zeitalters, in denen dieser Dichter – nicht ohne Augenzwinkern – Haben und Soll unserer durchkapitalisierten Welt auf den Prüfstand stellt. Raimondi, zugleich ein an den lateinischen Klassikern geschulter begnadeter Stilist, ist ergo ihr Chronist – und Kritiker. Einer Welt, in der alles, selbst die Literatur, zur Ware zu werden droht, hält er die Defizite mit ihren eigenen Waffen vor. Fachsprachen hebelt er nämlich zugleich aus, indem er ihre Widersprüche aufzeigt; zugleich lotet er deren lautliche Möglichkeiten aus, treibt sie auf die Spitze und erkundet damit die Sprache selbst als Hammer und Schmiede einer möglichen Wirklichkeitsdurchdringung. Darauf spielt bereits der Titel von „Zivilpoesie“ an, wie man im instruktiven Nachwort des Bandes aus der Feder von Raimondis deutschem Übersetzer Timo Berger lesen kann: „Im Spanischen bedeutet civil zum einen ‚zivil’ im Sinne von nicht militärisch, verweist zum anderen auf die Sphäre des Zivilisierten, des Gesellschaftlichen. Eine ‚Zivilpoesie’ wäre demnach eine Gesellschaftsdichtung, eine Zivilisationspoesie“ (Zivilpoesie, S. 98). Raimondis Gedichte – von Timo Berger stets ebenso elegant, formbewusst und mit dem nötigen Gehör für die darin eingelagerten Zwischentöne ins Deutsche übertragen – sind insofern in jeder Hinsicht subversive Speicher. „Schöner“, so schreibt Berger zu Recht im Nachwort zu „Für ein kommentiertes Wörterbuch“ (2012), „könnte ein Plädoyer für eine weltgewandte Dichtung, die sich gleichzeitig alle literarischen Freiheiten nimmt, die Rhetorik und Tradition bereithalten, nicht ausfallen.“

Text: Claudia Kramatschek

Zivilpoesie
Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Ausgewählt, aus dem (argentinischen??) Spanisch übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Timo Berger.
Wissenschaftlicher Verlag, Berlin 2005.

Für ein kommentiertes Wörterbuch
Gedichte. Aus dem Spanischen von Timo Berger.
Berenberg Verlag, Berlin 2012.

Zivilpoesie
Gedichte. Neue Übersetzung. Aus dem Spanischen von Timo Berger.
Hochroth Verlag, Berlin 2017.

Für ein kommentiertes Wörterbuch
II. Neue Auswahl. Aus dem Spanischen von Timo Berger.
Hochroth Verlag, Berlin 2017.

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