Taiwan, Musik & Klang, 2024, in Berlin

Ting-Jung
Chen

Photo: Diana Pfammatter

In ihrer Auseinandersetzung mit Grenzziehungen richtet die taiwanesische Künstlerin Ting-Jung Chen ihren Fokus auf hörbare Geschichte(n) und die Frage, welche Rolle Klang und Musik bei der Herausbildung sozialer Spannungen spielen. Die Historie dient dabei auch als Referenz in einer weitreichenderen narrativen Geste. Die von der Künstlerin dargebotenen Erzählungen beziehen sich auf das Hier und Jetzt, ohne die Rolle von Geschichte(n) bei der Erzeugung kollektiver, generationenübergreifender Erinnerungen zu vernachlässigen. So erscheinen sie wie Strömungen in der Konstruktion nationaler Identifikation.

Dies kommt in einer Reihe von Arbeiten zum Ausdruck, die sich mit Militarismus und Krieg beschäftigen – wozu auch die Idealisierung von Stimmen als nationalistische Symbole gehört. In Revolutions Per Minute (2020) sampelt die Künstlerin dreizehn Siegesreden von Machthabern souveräner Staaten während des Zweiten Weltkriegs. Bezeichnend dabei ist, wie derartige autorisierte Stimmen und Sounds aus Geschichte und Gesellschaft verschiedener Länder danach streben, über Klangfülle eine „absolute Harmonie“ zu erreichen. Durch die Überarbeitung dieses Materials gelingt Chen eine abstrahierte Form der Melodie, die beim Zuhören eine komplexere Perspektive auf sozialen Zusammenhalt bietet.

Durch die Beschäftigung mit den Aufnahmen von Reden und den ideologischen Tonalitäten, die sie sich zunutze machen, entwickelte die Künstlerin ein ausgeprägtes Interesse an akustischer Kriegsführung zwischen Nationalstaaten. So befasst sich ihre Installation You Are the Only One I Care About (whisper) (2018) mit dem Einsatz von riesigen Lautsprechern an der Küste Taiwans, die mit ausgewählten Slogans und Liedern das chinesische Festland beschallten. Die Arbeit besteht aus einer wandähnlichen Struktur mit siebzehn Pappmaché-Lautsprechern und überträgt eine Komposition der Künstlerin, die auf dem Song I Only Care About You von Teresa Teng basiert, deren Lieder auf den Lautsprechern als Teil der taiwanesischen Propagandakampagne abgespielt wurden. Die neue Komposition wird a cappella von zwei Opernsängerinnen vorgetragen, deren übereinander gelegte Stimmen eine unheimliche Wirkung entfalten.

Mit ihrer Installation If She Is Not Sitting In The Room (2021) vertieft die Künstlerin das Thema der akustischen Kriegsführung. Dabei eignet sie sich zweiunddreißig von Sängerinnen interpretierte Lieder an, die zwischen 1932 und 1971 in Taiwan als patriotisch galten oder aber verboten waren. Dem daraus resultierenden 8-Kanal-Klangwerk dienen vierzehn Lautsprecher, die in eine bewegliche Holzverkleidung eingearbeitet sind, als Verstärker. In das Holz wurde eine Morse-Code-Übersetzung der entsprechenden Liedtexte eingebrannt. BesucherInnen sind eingeladen, mit diesen beweglichen Elementen zu interagieren und dadurch die Klänge und Resonanzen im Raum zu verändern.

Diese komplexen Installationen werfen die Frage auf, wie Klang genutzt werden kann, um Grenzen und Grenzziehungen zu definieren. Die interaktive Arbeit Dislocated Voice (2022) etwa beruht auf den klanglichen Erinnerungen der BewohnerInnen der taiwanesischen Inselgruppe Kinmen, die der akustischen Kriegsführung zwischen ihrer Regierung und China (1953–1992) ausgesetzt waren. Mit Aufnahmen von Windgeräuschen aus der Region sowie gepfiffenen Versionen des Popsongs Good Night Song, der Tag für Tag als Gute-Nacht-Lied von Kinmen nach China gesendet wurde, schuf die Künstlerin eine groß angelegte Installation. Sie besteht aus vierzehn Lautsprechern und einem Richtlautsprecher sowie drei von oben herabhängenden Mikrofonen, die sich in Reaktion auf die Bewegungen der BesucherInnen im Raum drehen und die Umgebungsgeräusche aufzeichnen. Diese Aufnahmen werden in das fortlaufende Playback integriert, sodass eine schwindelerregende Mischung aus Live- und eingespieltem Ton, eine komplexe Interaktion zwischen Vergangenheit und Gegenwart entsteht.

Chen absolvierte ein Studium der Philosophie und beschäftigt sich intensiv mit Skulptur, Ton und räumlichen Umgebungen. Ihr Werk ist von einem tiefgehenden Interesse an der Konstruktion von Unterschieden geprägt sowie der Frage, wie Klang Grenzen erkunden und aufheben kann. Dabei geht es der Künstlerin weniger um politische Stellungnahmen als um eine nuancierte Form des Geschichtenerzählens und des Sounds. Kulturelle Symbole und Erinnerungen verknüpft sie mit dem Klang und Nachklang von Liedern und Stimmen ebenso wie mit den Melodien, die deren Bedeutung über alle Zeit hinweg weitertragen. So entstehen Neukompositionen, die eine bewusstere Art des Zuhörens ermöglichen.

Text: Brandon LaBelle
Übersetzung: Anna Jäger

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