Tom
McCarthy
„Solange es sich nicht auf Literatur bezieht, ist alles, was ich über mich sagen kann, ziemlich banal“, hat Tom McCarthy einmal bemerkt, und damit ausgedrückt, wie sehr er in der Welt des Literarischen verankert ist. Er identifiziert sich nicht nur mit ihr, sie ist sein Schicksal: „Schon als Kind bin ich davon ausgegangen, dass ich Schriftsteller werde.“ McCarthy wurde 1969 geboren und wuchs in London auf. Nach einem Literaturstudium verbrachte er die neunziger Jahre in Prag, Amsterdam und Berlin, wo er nicht nur günstig leben und schreiben konnte; hier hatte er auch bildende KünstlerInnen um sich. Für ihn bietet die Kunstwelt „eine Arena, in der Literatur betrachtet, verwandelt und erweitert werden kann.“
Ein weiterer wichtiger Einfluss ist für McCarthy der belgische Comiczeichner Hergé. Dessen Tintin-Abenteuer L’oreille cassée (Der Arumbaya-Fetisch) hat McCarthy über hundert Mal gelesen. Die Handlung des Comics ist in seinen Roman Men in Space, der 2007 in England erschien, eingeflossen. Er schrieb mit Tintin and the Secret of Literature ein Buch über die Möglichkeiten der Literatur, ihre „formalen Wesensmerkmale und Geschäftsgeheimnisse“ und veranschaulichte diese an der Comic-Reihe.
McCarthys mit Preisen ausgezeichnete Bücher erweitern den narrativen Möglichkeitsraum. Zwar verzichten seine Romane weder auf Handlung noch Figuren, ihre formalen Innovationen aber und ihr intellektueller Wagemut verleihen ihnen avantgardistische Züge. Der Protagonist des von der Kritik gefeierten Bestsellers 8 ½ Millionen (dt. 2009) wendet, nachdem er durch einen Unfall sein Gedächtnis verloren hat, viel Zeit und Geld dafür auf, auf Grundlage vager Erinnerungen seine einstige Lebenswelt wiederaufzubauen und obsessiv zu reinszenieren. Die Wiederholungsspirale befeuert das Leiden und die gleißenden Grübeleien des Helden.
Deutlicher noch zeigt sich McCarthys Interesse für Kunst, Kritik, Geschichte und Philosophie in seinem Roman K (dt. 2012). Dieser befragt, anhand der Geschichte des Protagonisten Serge Carrefax, das Verhältnis von Technologie und Realität. Carrefax ist von den technischen Neuerungen seiner Zeit, dem frühen 20. Jahrhundert, wie besessen, vor allem von der Funktechnik (die an das Internet erinnert). Immer wieder wählt er sich in lokale oder entfernte Funkfrequenzen ein und imaginiert zu dem, was er hört, die passenden Bilder. Zwar handelt es sich um ein historisches Setting, die Themen jedoch sind durch und durch zeitgenössisch, während es die Klänge sind, die außerhalb der Zeit stehen: “…the C is everywhere“, hört Serge. „The sea?“«, wundert er sich, und dann: „The letter: C.“ – Caul, Cokaine, Chute, Crash, Call, Carbon – Wörter, die mit C beginnen, pulsieren wie elektrische Ströme durch den Text und knistern vor Bedeutung.
Ein ständiger Dialog mit anderen DenkerInnen und KünstlerInnen prägt McCarthys Schreiben. Jeder seiner Sätze rauscht vor Assoziationen, Anspielungen, Andeutungen und löst damit eine Art Reizüberflutung aus, welche selbst eines der wiederkehrenden Themen des Autors ist. Der Roman Satin Island (dt. 2016) signalisiert bereits auf dem Cover spielerisch die Mehrdimensionalität von McCarthys Schreiben: »An Essay A Report A Treatise A Manifesto A Novel A Confession.« Es überrascht vor diesem Hintergrund kaum, dass sich der Autor gegen Etiketten verwehrt, darunter auch gegen jenes, das ihm die Royal Academy im Zuge des Brexitdiskurses verliehen hat: “Ich bin kein Beispiel für ›britisches Kulturschaffen‹“, so seine Reaktion. „Wie alle englischsprachigen Schriftsteller bin ich durch und durch Europäer“ – „und“, so erläuterte er, „Europäer zu sein, bedeutet bereits auch Afrikaner und Asiate zu sein.“
Text: Priya Basil
Übersetzung: Gregor Runge