Tomas
Venclova
„… ein Schatten liegt auf/ der Vergangenheit (wie auf der Gegenwart), im Licht der ersten heiteren/ Wochen: die Brücken/ im friedlichen Winkel Europas zwischen Wannsee und Potsdam – dort,/ wo vieles geschah und wohl nichts mehr geschehen wird.“
Diese Verse, die bei aller Unmittelbarkeit so weit zurückreichen und zugleich eine vorsichtige Prognose wagen, stammen aus dem Jahr 2003, aus der Feder eines der größten Dichter unserer Zeit: Tomas Venclova, der „litauische Odysseus“ (Thomas Kling), der oft gemeinsam mit den Literaturnobelpreisträgern Czes?aw Mi?osz und Joseph Brodsky erwähnt wird. Drei Freunde, die vieles gemeinsam haben, unter anderem eine osteuropäische Heimat, die sich nicht so leicht durch Sprach- oder Staatsgrenzen definieren lässt. Dichter, die aus Wahrheits- und Menschenliebe zu Dissidenten und in die Emigration gezwungen wurden. Weltbürger, die in der Literatur verwurzelt und ihrer jeweiligen Muttersprache im amerikanischen Exil treu geblieben sind. Venclovas „erste Muttersprache“, das Litauische, ist die kleinste, am schwersten zugängliche, kaum war sie literaturfähig geworden, musste sie im Zuge der Bündnisse und Eroberungen mit dem Weißrussischen, Polnischen und später Russischen konkurrieren, bis sie dauerhaft zur Nationalsprache wurde. Für Venclova ist sie bis heute das Zentrum seiner Welt geblieben, wie Cornelius Hell schreibt, einer der wenigen ausgewiesenen Kenner der litauischen Literatur im deutschsprachigen Raum, auch wenn diese Welt sich vielerlei Einflüssen öffnet, wie Hell weiter ausführt: „Seine Gedichte stehen nicht auf leeren Blättern, dahinter schimmern alte Handschriften durch, Zitate und Anspielungen (…). Litauische, polnische und russische Prätexte sind integriert in diesen intertextuellen Dialog, aber natürlich auch englische, deutsche, französische. Und dahinter schimmert an vielen Stellen die Antike durch.“
1937 in Klaipëda (Memel) geboren, studierte Tomas Venclova in Vilnius Lithuanistik und russische Literatur. Zunächst Kommunist wie sein Vater, der Dichter und Kultusminister Antanas Venclova, der die Hymne der litauischen Sowjetrepublik verfasst hatte, fiel er vollkommen vom Glauben ab, als 1956 der ungarische Aufstand von sowjetischen Panzern niedergewalzt wurde. Diesem Ereignis gilt eines seiner ersten (im Samisdat) veröffentlichten Gedichte, „Hidalgo“, in dem bereits das literarisch-historisch fundierte, wache zeitkritische Bewusstsein des jungen Lyrikers zum Vorschein kommt, gepaart mit ganz klassischem Formwillen: „Niemals werden wir durchschaun, warum/ uns bestimmt sind Plätze und Tribünen,/ Kugel, Galgenstrick und Panzerturm.“ Nach längeren Aufenthalten in Moskau und Leningrad, wo er Anna Achmatowa kennenlernte und seine fruchtbare Freundschaft mit Joseph Brodsky begann, kehrte Tomas Venclova nach Vilnius zurück und lehrte an der Universität Literaturgeschichte und Semiotik. Obwohl nur ein Bruchteil seines lyrischen und essayistischen Werkes offiziell erscheinen durfte, blieb er einigermaßen unbehelligt, bis er 1976 die litauische Helsinki-Gruppe zur Verteidigung der Menschenrechte mitbegründete. Um den Freund vor den drohenden Repressalien zu schützen, sorgte Brodsky mit Unterstützung von Czes?aw Mi?osz dafür, dass Venclova als Gastdozent nach Berkeley eingeladen wurde. Kurz nach seiner Ausreise 1977 erfolgte die zwangsweise Ausbürgerung – die Rückkehr in seine Heimat blieb Venclova bis zur Unabhängigkeit im Jahre 1991 verwehrt. Dafür bereiste er mit dem gewohnten Gespür für die Gegenwart des Vergangenen und die Vergänglichkeit alles Gegenwärtigen die Welt: Wien, Paris, Kopenhagen, Berlin werden in seinen Gedichten ebenso evoziert wie Woronesch, wo Ossip Mandelstam – dessen Vorstellung vom Dialog der Dichter und Denker quer durch alle Zeiten in Venclovas Werk eine Schlüsselrolle spielt – in Verbannung gelebt hat, Moskau, Leningrad und immer wieder Vilnius. In den USA wurde er bald am Lehrstuhl für Slawische Literaturen der Yale University beschäftigt, seit 1993 ist er dort Professor. Neben seiner Lehrtätigkeit und seiner eigenen schriftstellerischen Arbeit hat Tomas Venclova im unermüdlichen Dienst der Literatur nicht nur Mandelstam, Brodsky und Mi?osz ins Litauische übersetzt, sondern auch Achmatowa, Pasternak, Wis?awa Szymborska, Konstantin Kavafis, Henri Michaux, Ezra Pound, T.S. Eliot, W.H. Auden und noch etliche andere.
Auf Deutsch liegt neben Venclovas Essayband „Vilnius. Eine Stadt in Europa“ – einem höchst lebendigen Porträt dieser einzigartigen Stadt im Wandel der Zeiten – inzwischen ein Drittel seines lyrischen Gesamtwerks vor, von Claudia Sinnig und Durs Grünbein mit unendlicher Sorgfalt, Sachkenntnis und sprachlichem Feingefühl übersetzt und kommentiert. In seinem Nachwort weist Durs Grünbein, selbst ein herausragender Lyriker, mit Emphase auf die Bedeutung von Tomas Venclovas Schaffen hin: „Um mit einem starken Wort zu beginnen: die vorliegenden Gedichte, die man mit gutem Gewissen ein gelungenes Lebenswerk nennen kann, gehören zum Unzeitgemäßesten, was die zeitgenössische Poesie zu bieten hat – und gerade darin besteht ihre Größe. Es sind die Gedichte eines besonders seltenen Vogels mit einem heraldisch besonders ausgeprägten Profil. (…) Äußerlich zeigen sie sich scheinbar streng an das Metrum gebunden (…) Im Innern dagegen rebelliert ein sprungbereites Subjekt, das so heftig nach Freiheit verlangt wie nur jemand, dem sie von früh an vorenthalten wurde. In dieser Spannung liegt die Eigenart von Venclovas Dichtung, ihre aufwühlende Paradoxie.“
Text: Patricia Klobusiczky
Vor der Tür das Ende der Welt. Gedichte. In der Übertragung von Rolf Fieguth. Interlinearübersetzung von Claudia Sinnig-Lucas. Mit einem Essay von Joseph Brodsky. Rospo Verlag, Hamburg 2000.
Vilnius. Eine Stadt in Europa. Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006.
Gespräch im Winter. Gedichte. Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig und Durs Grünbein. Mit einem Nachwort von Durs Grünbein. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007.