Yvonne
Rainer
Die Tänzerin, Choreografin und Filmemacherin Yvonne Rainer (geb. 1934 in San Francisco), kam Ende 1976 als Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD (BKP) in der Sparte Film nach Westberlin. Ihre Aufnahme im BKP – sie hatte sich 1973 erstmals für das Stipendium beworben – gestaltete sich zunächst schwierig, da es noch kein Programm für TänzerInnen und ChoreografInnen gab, und die neu etablierte Sparte Film aus finanziellen Gründen vorübergehend eingestellt worden war. Rainer hatte zehn Jahre modernen Tanz bei Martha Graham und Merce Cunningham in New York studiert und choreografierte seit 1960 ihre eigenen Werke – erst Solo-Stücke, dann größere Gruppen-Choreografien. Sie führte gewöhnliche Bewegungen in den Tanz ein, die sich bewusst an minimalistischer Malerei und den „Primary Structures“ – geometrischen Grundstrukturen – der 1960er Jahre anlehnten. 1962 gründete sie zusammen mit einigen anderen das Judson Dance Theater. Die erste Aufführung am 6. Juli 1962 gilt als Geburtsstunde des postmodernen Tanzes. Ab 1966 begann Rainer damit, Dias, Filmsequenzen und Textfragmente in die Tanzchoreografien einzubinden – Letztere finden sich auch in ihren Filmen. 1972 führte sie Regie in ihrem ersten Feature-Film Lives of Performers – einer Fortführung ihrer Mixed-Media-Performances. Rainers Neudefinition der filmischen Erzählung steht konträr zur damals dominierenden Avantgarderegie. Ihre Filme tragen eine klare feministische und politische Handschrift: Die Psychologie politischer Radikalität, progressiv-akademische Diskurs-Rituale, Beziehungsprobleme oder weibliche Sexualität im Alter stehen zur Diskussion, oft vorgetragen mit einer bis zur Parodie entblößten emotionalen Verletzlichkeit.
Im September 1976 war Yvonne Rainer in der Film- und Video-Sektion in SoHo – Downtown Manhattan, einer Ausstellung der Berliner Festwochen in der Akademie der Künste (West), vertreten, und im Mai 1977 zeigte das Kino Arsenal in Kooperation mit dem BKP ihre drei ersten Feature-Filme. Das Skript für ihren vierten und vielleicht komplexesten Film Journeys from Berlin/1971, den sie 1980 vollendete, ist das Ergebnis ihres Berlin-Aufenthalts; der Film selbst entstand 1979 in New York, Berkeley, London und Berlin unter Beteiligung des BKP an der Produktion. Einer der vier ineinander geflochtenen Erzählstränge – wobei Text- und Bildebene meist unabhängig voneinander sind – besteht aus kurzen Lauftexten vor schwarzem Hintergrund, in denen stichpunktartig von historischen politischen Ereignissen in der BRD seit 1953 berichtet wird, die im Tod von Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in Stammheim kulminieren. Das berühmte Bild Meinhofs mit über dem Kopf verschränkten Händen taucht an verschiedenen Stellen im Film auf – es verschwindet etwa in der Schublade einer Psychotherapeutin (die Patientin, gespielt von Annette Michelson, berichtet von einem Suizidversuch, der 1971 in Berlin stattfand) oder ziert den Küchensims eines Paares (gesprochen von Amy Taubin und Vito Acconci), die während der Zubereitung eines Dinners über politische Motive russischer Terroristinnen des 19. Jahrhunderts bis hin zu denen der RAF diskutieren. Verschiedene Kamerasequenzen zeigen Straßen Berlins.
Vor ihrem Berlin-Aufenthalt nahm Rainer 1976 am Edinburgh Film Festival teil; das Städtische Museum Mönchengladbach zeigte 1976 eine Retrospektive ihrer Filme. Rainer war Teilnehmerin der documenta 6 und 12 (1977, 2007), für Letztere produzierte sie eine neue Tanzperformance, die im Theater des Fridericianums aufgeführt wurde.
Text: Eva Scharrer