China (VR), Film, 2024, in Berlin

Zheng
Lu Xinyuan

Photo: Diana Pfammatter

Das Werk der chinesischen Filmemacherin Zheng Lu Xinyuan zeichnet eine spezifisch feministische Sensibilität und ein reflexiv-kritisches Bewusstsein aus. In ihren Filmen scheint ein Gefühl der Ungleichzeitigkeit auf, das aus der Verdichtung urbaner Schichten und Strukturen rührt: die unterschwelligen Emotionen der Ein-Kind-Generation, die zwischen Erinnerung, Intimität und Verlangen im postsozialistischen, städtisch geprägten China navigieren müssen.

In Xinyuans jüngstem Spielfilm, Jet Lag (2022), der 2022 beim Berlinale Forum Premiere feierte, führen sie die Spuren eines Familiengeheimnisses nach Myanmar, wohin ihr Urgroßvater in den 1940er Jahren aus beruflichen Gründen ausgewandert war. Unvermutet brach er alle Verbindungen mit der Familie ab und konvertierte zum Buddhismus.
Der mit einem Hand-DV-Camcorder und einem Mobiltelefon aufgenommene Film rahmt ihre Reise und zerlegt sie gleichzeitig in Bruchstücke: Quarantänehotels während der Pandemie, ihr Intim- und Sozialleben als queere Künstlerin sowie der letzte Militärputsch bzw. der gesellschaftliche Aufstand in Myanmar – Ereignisse, die sie schnell wieder von den neu gefundenen Familienmitgliedern trennten. Die Abwesenheit der Vaterfigur stellt dabei einen parallelen Strang dar zur Repräsentation verschiedener Generationen von Frauen, die sich mit ihren Verlusten und Erinnerungen auseinandersetzen, wie auch zur anhaltenden und neu auflebenden patriarchalen Gewalt unterschiedlicher Ausprägungen – vom konkret gewalttätigen Vater, an den sich ihre Intimpartnerin erinnerte, bis zu den autoritären Regimen als offensichtliche Metapher.

Xinyuans reflektierter und auf Beziehungen konzentrierter Stil war schon deutlich in ihrem Debütfilm The Cloud in Her Room (2020) zu erkennen, der auf dem Filmfestival Rotterdam mit dem Tiger Award ausgezeichnet wurde. In diesem intimen Porträt vom Heimatbesuch einer jungen Frau und ihres bevorstehenden Zusammenbruchs experimentiert sie mit einem kaleidoskopartigen, hybriden Ansatz, bei dem sie sinnliche Erinnerungen mit Dokumentaraufnahmen und fiktionalen Regieanweisungen verschränkt. An der USC School of Cinematic Arts in Los Angeles ausgebildet, gelingen Xinyuan Arbeiten, die technisch präzise ausgearbeitet sind und doch über die in der Branche üblichen Schemata hinausgehen. Eher bewegen sie sich in Richtung kleiner, sozialpsychologischer Performanceexperimente, in denen die AmateurschauspielerInnen passgenau zur Rolle besetzt sind und Location Scouting sowie szenische Improvisationen den Film mitgestalten. Auf diese Weise wird das Set zu einem sicheren und doch magischen Ort der Begegnung, einem Spielplatz und Raum, der Gemeinsamkeit schafft.

Die Präsenz des Körpers und der Energiefluss der Sinne stehen im Vordergrund von Xinyuans Filmen. Die chinesische Metropole Hangzhou, in der sie wohnt und arbeitet, hat eine eigene Seele. Grenzen zwischen Belebtem und Unbelebtem verwischen, die jahreszeitlich bedingten Temperaturen, die verwitterten sozialistischen Gebäude und der brutale Abriss alter Infrastruktur spiegeln sich im Innenleben der Filmcharaktere. Xinyuans Arbeiten sind zwar persönlich, aber nicht wirklich autobiografisch, da es keinen verlässlichen Standpunkt gibt, von dem Erinnerung, Versöhnung und Reparation ausgehen könnten. Was die Filmemacherin dokumentieren und teilen will, ist die Nähe, die beim Er- und Durchleben bestimmter Gefühle entsteht – es geht um eine sensorische Verkörperung der Formsprache und Materialität von Kino. Mit dieser Dynamik der Emotion tragen ihre Filme auch zu einer größeren weiblichen Intersubjektivität über Klassen- und Generationsgrenzen hinweg bei. Wir spüren eine ähnliche Sehnsucht, Angst und Selbstverleugnung bei der im Ausland studierenden Kunststudentin, die aus der Mittelklasse stammt und ihre erste Liebe sucht (Niu in the Last Day of Fall, 2017); bei einer Schauspielerin, die einen Film dreht und gleichzeitig versucht, sich in einer neuen Stadt zurechtzufinden und mit dem verwirrenden Verlangen zu einem ausländischen Regisseur klarzukommen(A White Butterfly on a Bus, 2018); und bei einer jungen Migrantin, die ein Dorf am Stadtrand von Guangzhou verlässt und in Videotagebüchern von ihren unerfüllten Neujahrswünschen erzählt (Just Like Any Other Night, 2022).

Als Filmemacherin in einer Übergangsphase des unabhängigen chinesischen Kinos und einer neuen Art des Filmemachens, die mit der rigiden Zensur im Land kämpft, hat Xinyuan ihre Praxis an die Realität angepasst. Sie führt sozial engagierte Videokunstprojekte mit jugendlichen MigrantInnen durch, zeigt und diskutiert ihre Filme in kommunalen Einrichtungen und bietet alternative Grassroots-Filmworkshops an. Xinyuan lässt sich ihre Ehre nicht nehmen, großzügig teilt sie ihre unbeirrbare Kreativität und ihren Einfallsreichtum bei der Erforschung und Problematisierung filmischer und sonstiger Welten.

Text: Zimu Zhang
Übersetzung: Anna Jäger

Vergangen

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