Attachment to Land. Aleksandra Jach im Gespräch mit Xu Tan
08.02.2019 / 19:00 – 21:00
Mit Xu Tan
Seit mehreren Jahrzehnten befindet sich die chinesische Gesellschaft in einem rapiden Modernisierungsprozess. Ein ehemals überwiegend agrarisch strukturiertes Land ist zu einer weltweit führenden Macht auf dem Gebiet der Urbanisierung und der Industrialisierung geworden. Im Zug dieser Entwicklung sind Millionen Menschen aus ländlichen Gebieten in industrielle Zentren abgewandert. Sie haben ihre traditionelle Lebensweise aufgegeben, andere Fertigkeiten erworben und neue Gemeinschaften gegründet. Diese veränderten Bedingungen haben zwangsweise zu einem radikalen Bruch ihrer Verbundenheit mit dem Land geführt.
In diesem Gespräch mit dem Künstler Xu Tan wollen wir uns die Herausforderungen genauer ansehen, mit denen sich chinesische Bauern konfrontiert sehen auf dem Weg, den ihnen die Logik der Globalisierung vorschreibt. Dabei wird die Frage im Zentrum stehen, wie diese Bauern die in jüngster Zeit vorgenommenen Änderungen auf dem Gebiet des Landbesitzes, der Erzeugung von Lebensmitteln und der Umweltzerstörung sehen. Wir werden das Konzept einer Land-Ethik unter den Aspekten der Getreideproduktion, Tierzucht, Weidewirtschaft, Bodenbearbeitung und Ernteeinbringung diskutieren. Xu Tan hat sich über Jahrzehnte regelmäßig mit chinesischen Bauern aus verschiedenen Teilen des Landes unterhalten. Die Methode, deren er sich in diesen Gesprächen bediente – die »Suche nach Schlüsselwörtern«, wie er selbst sie nennt –, besteht im Erstellen einer Liste von Begriffen, die sich in den Interviews häufen, und eine genaue Definition ihrer Bedeutung. Xu Tan analysiert nicht nur die Sprache seiner Interviewpartner, er beachtet auch den Standpunkt, von dem aus sie ihre Geschichten erzählen. Er setzt ethnografische Methoden ein, mit dem Ziel, ein auditives und visuelles Archiv des kollektiven Bewusstseins der chinesischen Gesellschaft zu erschaffen. Sein Interesse gilt auch den Mustern der Kommunikation, die von Generation zu Generation weitergegeben worden sind und die einen sorgfältigeren Blick auf Prozesse ermöglichen, die dazu führen, dass Natur, Land, Ackerbau und Freiheit eine neue Sinngebung erfahren.
Die Reihe von Gesprächen und Präsentationen fragt aus unterschiedlichen Blickwinkeln nach der Bedeutung von Land. In den kommenden Jahren werden die Migrationsströme als eine Konsequenz des Klimawandels weiter anwachsen. Aufgrund der extremen Wetterbedingungen sowie der extraktiven Politik von Regierungen und Unternehmen, in der kleine Eliten die Macht und die Kontrolle über ökonomische Ressourcen innehaben, sind Menschen gezwungen, ihr Land zu verlassen. Weder eine globale Perspektive in Form von postnationalen institutionellen Organen, noch die Rückkehr zu einer Politik der Nationalstaaten oder zu den ethnischen Wurzeln: keines der bestehenden Modelle bietet eine Lösung für die planetarischen Herausforderungen. Der Klimawandel ist kein abstraktes, sondern ein materielles Phänomen, das alle Mauern und Grenzen, die Menschenströme abhalten sollen, außer Kraft setzt.
Darum müssen Fragen, die um die Relevanz und Vielschichtigkeit von Land kreisen, von funktionsunfähigen modernen Kategorien und Ökonomien entkoppelt und stattdessen mithilfe von materiellen und spirituellen Praktiken des täglichen Lebens neu überdacht werden. Die eingeladenen Künstler*innen beschäftigen sich mit verschiedenen Formen von Verbundenheit zu Land – ausgehend von persönlichen Erfahrungen oder von kollektiven Allianzen mit menschlichen und außermenschlichen Lebewesen. Dabei fragen sie nach den Bedingungen für Zugehörigkeit und dem Recht, nicht enteignet zu werden. Sie beschäftigen sich mit der Gefahr biologisch konstruierter Identitäten und dem Druck, dem jene gesellschaftlichen Gruppen ausgesetzt sind, die sich der Hypermodernisierung nicht fügen wollen.
Was die sehr unterschiedlichen Blickwinkel und Herangehensweisen der eingeladenen Künstlerinnen verbindet, ist, dass sie alle über die existentielle Bedeutung von Grund und Boden nachdenken. Die oft subtilen Gesten, Handlungen und Vorstellungen zeigen einen ethischen Umgang mit Land, der konkret, beziehungsorientiert und bis zu einem gewissen Grad universal ist. Wenn Politik dort beginnt, wo Territorium identifiziert wird, regen die eingeladenen Künstlerinnen dazu an, neue Wege zu finden, „Territorium“ als Lebensraum zu definieren.
Xu Tan wurde 1957 in Wuhan in der Provinz Hubei geboren und lebt zur Zeit in Shenzhen und Guangzhou. Xu besuchte die Kunsthochschule in Guangzhou, wo er 1983 den Bachelor of Arts und 1989 den Master of Arts in Ölmalerei erhielt. 1993 wurde Xu Mitglied der Künstlergruppe Big Tail Elephant und nahm an den Ausstellungen der Gruppe zwischen 1992 und 1996 in Guangzhou und 1998 in Bern teil.
Xu Tan erhielt 2002 ein Stipendium des Asian Cultural Council (Rockefeller Foundation), New York, und 2004 ein Stipendium des DAAD in Berlin.
Projekte der letzten Jahre (Auswahl): Cities Grow in Difference: Bi-City Biennale of Urbanism /Architecture VII, Shenzhen, 2018; Art and China after 1989: Theater of the World, Guggenheim NYC, 2018; Canton Express: M+ Pavilion, Hong Kong, 2017; Linguistic Pavilion, Minsheng Art Museum, Shanghai, 2016; Parasophia: Kyoto International Festival of Contemporary Culture, Kyoto, 2015; The past, the present, the possible, Sharjah Biennial 12, 2015; How to talk with birds, trees, fish, shells, snakes, bulls and lions …: Staatliche Museen zu Berlin, 2018.
Eine Veranstaltungsreihe mit Agnieszka Brzeżańska, Carolina Caycedo, Ewa Ciepielewska, Aleksandra Jach, Xu Tan u.a.
Foto: Xu Tan, Dokumentationsmaterial, 2018