Berlin Review Audio: Unheilige Texte
25.06.2024 / 19:00 – 21:00
Mit Logan February
und Birthe Mühlhoff, Miriam Stoney, Tobias Haberkorn
«I have arrived in Berlin with a territorial trauma; the history that haunts me at Sanssouci and the Berliner Schloss is divinely wicked. Still—slices of sweet rebellion enter the uncertainty of this new life. Such as standing in the lectern at the Berliner Dom, giving my sermons on pride and lust to full Sunday congregations.» Logan February
«Friedrich Nietzsche soll sich schwarz geärgert haben, weil er Spinoza zu spät für sich entdeckte. Mir kommt es so vor, als könne man manche Texte auch zu früh lesen. Manche Dinge – es sind wenige – erlebt man besser unverfälscht, ohne dass man sich fragen muss: Erlebe ich hier lediglich, was ich zuvor irgendwo gelesen habe?» Birthe Mühlhoff
Am Anfang, heißt es, war das Wort. Aber Wörter allein reichen oft nicht aus. Sei es im Schmerzempfinden, in der Lust oder im Verlangen, im Glauben, Zweifeln oder instinktiven Handeln: Immer wieder tritt die Sprache hinter nonverbale Ebenen von Bedeutung zurück. Als soziale und geschichtliche Wesen kehren wir aber immer neu zu den Worten zurück, um unsere tiefsten Empfindungen in sie zu legen. Wir lesen und beten, schreiben und dozieren, schaffen und gebrauchen Texte, um die Unzulänglichkeit der Worte abzumildern.
In dieser Fortsetzung unserer Reihe Berlin Review Audio sprechen wir mit zwei Autor:innen, die die Grenzen von Sprache und Text auf ihre Weise untersuchen. Die Kritikerin und Übersetzerin Birthe Mühlhoff schreibt seit der ersten Ausgabe im Februar 2024 für Berlin Review. Mit Redakteur Tobias Haberkorn spricht sie über die Philosophin, Mystikerin und politische Aktivistin Simone Weil, die 1943 im Alter von nur 34 Jahren in einem Sanatorium südöstlich von London verstarb. Weil entstammte einer jüdischen Familie, viele ihrer Schriften handeln jedoch von ihrer konfliktreichen Neigung zur katholischen Kirche. Obwohl viele ihrer Themen karg und altmodisch wirken, findet sie eine begeisterte junge Leserschaft. Die Schärfe ihrer Gewissensprüfung und ihr politischer Idealismus faszinieren bis heute. Simone Weil zu lesen bedeutet für Birthe Mühlhoff, sich selbst zu befragen: Warum lese ich, was ich lese, und warum lese ich es jetzt?
Für einen Essay in der ersten Printausgabe von Berlin Review hat Poet:in und Songwriter:in Logan February verschiedene Orte in und um Berlin besucht, die von Zuflucht oder Vertreibung handeln. Vom Barockschloss Sanssouci Friedrichs des Großen in Potsdam über die kolonialen Sammlungen im Humboldt-Forum bis zum Berliner Dom, in dem Logan im Frühjahr auf Einladung der evangelischen Gemeinde zwei Predigten über die Todsünden Hochmut und Wollust hielt, geht Logan jenen Dingen nach, die in den Gewaltgeschichten der Moderne «verschollen», das heißt verloren und verklungen sind, deren Nachhall aber weiter hörbar ist. Solche unterschwelligen Bedeutungsschichten interessieren auch Logans Gesprächspartnerin Miriam Stoney, die sich in ihrem demnächst erscheinenden Berlin Review-Essay The Good Enough Translator mit dem Unausgesprochenen und Unaussprechlichen in Literatur und Literaturbetrieb auseinandersetzt.
Birthe Mühlhoff ist Literaturkritikerin, Übersetzerin und Kolumnistin des Filmmagazins Cargo. Ihre Essays und Kritiken sind unter anderem in der Süddeutschen Zeitung und in The Point erschienen. In den ersten beiden Ausgaben von Berlin Review schrieb sie über den Althistoriker Peter Brown und über eine Reihe von Romanen über Mutterschaft. Birthe lebt in Dresden.
Logan February wurde in Anambra, Nigeria, geboren und ist Poet:in, Essayist:in, Songwriter:in und Musikritiker:in. 2019 erschien der Gedichtband In the Nude. 2023/24 ist Logan Fellow im DAAD Künstler*programms in Berlin. Logans Essay Sans, Souci. erscheint in der Printausgabe der Berlin Review im Sommer 2024.
Als bildende Künstlerin, Autorin und Übersetzerin arbeitet Miriam Stoney auf vielfältige Weise mit Sprache. Ihre gemeinsam mit Robert Schwarz erarbeitete Performance I’m just saying wurde kürzlich im Kunstverein Hamburg gezeigt. Miriam ist Contributing Editor der Berlin Review.
Tobias Haberkorn ist Herausgeber und Gründungsredakteur der Berlin Review.