Coronaro raus!
17.04.2020
Mit Angélica Freitas
Dieser Artikel von Angelica Freitas wurde am 17.4.20 in der Zeitung Tagesspiegel veröffentlicht.
Coronaro raus!
“Ist doch bloß eine kleine Grippe.“ „Brasilianern passiert noch nicht mal was in der Kanalisation.“ „Wir sterben alle irgendwann.“ Das sind nicht etwa anonyme Kommentare in den sozialen Medien, das sind die Worte des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro. Von Anfang an hat er die Pandemie geleugnet: Ungeachtet der Empfehlungen brasilianischer und internationaler Gesundheitsbehörden besteht er darauf, auf der Straße Leuten die Hände zu schütteln. Den Nachweis seiner Covid-19-Testungen möchte er allerdings nicht öffentlich machen (mindestens 25 Regierungsmitglieder wurden inzwischen positiv getestet). Ihm könne das Virus nichts anhaben, behauptet er. Schließlich sei er früher Sportler gewesen. Er möchte, dass die Geschäfte wieder öffnen.
Nach seiner Rede vom 24. März, in der er erneut die Epidemie verharmloste, war wieder wesentlich mehr los in meiner Nachbarschaft, einem Mittelklasseviertel von São Paulo. Allerdings nicht so vielwie sonst. Ich schaue aus dem Fenster und bin erstaunt, wie viele Menschen sich an die Ausgangssperre halten. Vielleicht, weil der Gouverneur des Bundesstaates São Paulo dem Präsidenten widersprochen hat und die Bevölkerung bittet, zuhause zu bleiben.
Und nun sitzen wir also zuhause. In drei Wochen bin ich nur dreimal rausgegangen um einzukaufen. Fernseher, Handy, Computer – ununterbrochen tauschen wir Erfahrungen und Informationen aus. Wir wissen, dass die Zahl der Opfer zu niedrig angegeben wird – am 3. April, an dem ich diesen Artikel schreibe, waren laut Gesundheitsministerium 229 Personen an Covid-19 verstorben; insgesamt gab es 7910 Infizierte im Land. Die meisten von ihnen in São Paulo, wo es 188 Tote gab. Verstorbene werden unter die Erde gebracht, ohne vorher getestet worden zu sein. Es gibt sowieso nicht genügend Tests für alle.
Es ist bezeichnend, dass das erste Opfer der Pandemie in Rio de Janeiro eine Hausangestellte war. Sie starb am 17. März mit 63 Jahren, war Diabetikerin und litt an Bluthochdruck. Ihre Arbeitgeberin lebt im sehr wohlhabenden Stadtteil Leblon und war von einer Italienreise zurückgekehrt. Als das bekannt wurde, twitterte jemand: Casa-grande e senzala, „Herrenhaus und Sklavenhütte“, und spielte damit auf die Sklavenhaltergesellschaft an, die Brasilien einmal war. Die Folgen dieser Vergangenheit sind bis heute zu spüren. Es ist auch der Titel eines Buches des Anthropologen Gilberto Freyre, in dem er aufzeigt, dass die soziale und politische Ordnung des Landes auf diese zwei Orte zurückgeht. Wer das Land besaß, besaß auch alles, was sich darauf befand: Häuser, Frauen, Tiere, Sklaven.
Bis heute existieren in den Wohnhäusern der Mittelklasse zwei Aufzüge: der elevador social, der „standesgemäße“ Aufzug – für die Hausherren – und der für die Bediensteten. Oft wurde ich, wenn ich den Bedienstetenaufzug nehmen wollte, vom Hausmeister eines solchen Wohnhauses angesprochen – meist ein Mann, meist arm, und seine Aufgabe besteht unter anderem darin, Fremden, insbesondere armen Fremden den Eintritt ins Gebäude verwehren: „Nein, nein, Senhora, warten Sie, der elevador social ist gleich da.“
Zurück zum ersten Covid-19-Opfer in Brasilien. Falls Sie nicht wissen sollten, was eine Hausangestellte ist: Meist handelt es sich um eine Frau, sehr oft eine Schwarze Frau, die all das im Haushalt erledigt, was man selbst nicht erledigen will oder kann (um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, kann man sich mit dem Arbeitsplatz herausreden, den man schafft). Sie macht das Bett, kocht, spült, geht mit dem Hund spazieren. Hausangestellte in Brasilien seien ein Teil der Familie, heißt es oft. Ein Beispiel aus meiner eigenen Familie: Die Tochter der (Schwarzen) Frau, die in den 80er Jahren Hausangestellte bei uns war, arbeitet heute als Reinigungskraft in der Schule meiner Schwester.
Hausangestellte haben keinerlei soziale Absicherung, eine Situation, die sie mit 40% der Brasilianer·innen teilen. In Zeiten der Coronakrise ist das erst recht mehr als prekär. Am 30. März hat der Kongress eine Nothilfe für den informellen Sektor beschlossen, doch bis heute, 3. April, wurde das Geld nicht ausgezahlt. Es geht um 600 BRL monatlich (ungefähr 104 €, wobei der Mindestlohn bei 1045 BRL/182 € liegt). Ich suche nach einer Erklärung für diese Verzögerung, lese Zeitungen, frage auf Twitter unter #pagalogobolsonaro (Sofort bezahlen, Bolsonaro): „Warum gibt Bolsonaro das Geld nicht frei?“ Meine Freunde antworten: „Reine Böswilligkeit.” Die Erklärung der Regierung: Dem Kongress müsse eine sogenannte vorläufige Maßnahme vorgelegt werden, um eine außerordentliche Kreditaufnahme zu ermöglichen. Wie soll man das jemandem erklären, der nichts mehr zu essen hat und nicht weiß, wann er wieder arbeiten kann? Böswilligkeit.
Jair Bolsonaro steht ganz klar auf Seiten des Herrenhauses. Er regiert so, dass es dem Herrenhaus gut geht. Er möchte schließlich seine Wählerschaft nicht verprellen (die Unternehmer, die während des Wahlkampfs WhatsApp-Falschmeldungen finanzierten und so zu Bolsonaros Wahlerfolg beitrugen). Deshalb besteht er darauf, dass die Arbeiter wieder produzieren. In den sozialen Medien zirkulieren Memes, die ironisch fragen: „Wer in deiner Familie kann sterben, damit die Wirtschaft nicht stagniert?“
Vergangenes Wochenende veranstalteten die Anhänger des Präsidenten eine Autodemonstration für die Wiederöffnung der Geschäfte. Es gibt Videos davon im Netz, viele Importwagen, SUVs, flatternde brasilianische Flaggen. Nur Arbeitgeber. Alle aus dem Herrenhaus. Übrigens rieten die Organisatoren den Demonstrationsteilnehmern, auf keinen Fall ihre Autos zu verlassen.
Weil ich die Situation besser verstehen will, nehme mit der Philosophin Marcia Tiburi Kontakt auf. Sie veröffentlichte 2015 Como conversar com um fascista (Wie unterhalte ich mich mit einem Faschisten) und war bei den Gouverneurswahlen im Bundesstaat Rio de Janeiro Kandidatin für die Arbeiterpartei (PT), der Partei, der auch Lula angehört. Ich erzähle ihr, dass ich an einem Artikel für eine deutsche Zeitung arbeite und frage sie, was sie von Bolsonaros Politik hält, die massenhaftes Sterben der ärmeren Bevölkerung in Kauf nimmt.
„Bolsonaro ist ein Möchtergern-Hitler, um einen Ausdruck Adornos aufzugreifen“, schreibt Macia Tiburi. „Er hat die Wahl gewonnen, zusammen mit seinem zerstörerischen Projekt, dass auf einem Todestrieb basiert. Er will aus Brasilien ein Konzentrations- und Vernichtungslager machen, und da kommt ihm das Virus gerade recht.“ „Brasilien ähnelt in vieler Hinsicht Nazideutschland. Alles, was in Brasilien geschieht, gerade auch die Implikation der Justiz, erscheint wie eine Rückkehr zu jener Zeit in Deutschland. Schwarze, Arme, Indigene, Aktivisten und Linke sind Bolsonaros Juden.“
Am 1. April wurde der erste Ansteckungsfall bei brasilianischen Indigenen bekannt. Eine 20-jährige Frau, die Gesundheitsassistentin für indigene Gemeinschaften im Bundesstaat Amazonas ist, hatte sich bei einem Arzt angesteckt. Vermutlich sind zahlreiche Indigene infiziert worden. Getestet wurden sie nicht, zwei Dörfer wurden unter Quarantäne gestellt. Es gibt eine lange Kolonisationsgeschichte der Infektion von indigenen Völkern durch Weiße.
„Brasilien ist ein Laboratorium des Neoliberalismus“, schreibt Marcia. „Wenn Bolsonaros Politik erfolgreich ist, werden andere Länder sie kopieren. Wer also gerne eine bessere Welt hätte, sollte sehr genau hinschauen, was an den Rändern der Welt passiert, die um Hilfe rufen.“
Wie so viele brasilianische Intellektuelle wurde Marcia Tiburi während des Wahlkampfes 2018 bedroht und ging ins Exil, als Bolsonaro Präsident wurde. Sie lebt heute in Frankreich und unterrichtet an der Universität Paris VIII.
Küntler·innen live
Auch wer im Kulturbetrieb arbeitet, sieht sich seiner Grundlagen beraubt. Meine Frau Juliana ist Sängerin und Musikerin. „Wir mussten als allererste aufhören und werden die letzten sein, die wieder ihren Beruf ausüben können“, sagt sie. „Schließlich verursachen wir Menschenansammlungen.“ Ihre Einnahmen erzielt sie aus Konzerten, den eigenen als Sängerin, und als Musikerin in Bands. Ihre zwei Konzerte im März wurden abgesagt, vorerst sind keine weiteren Engagements in Sicht.
Schon in der ersten Woche der Krise boten zahlreiche von Julianes Kolleg·innen Livegigs im Netz an. An den Wochenenden gibt es einen regelrechten Stau an Liveauftritten auf Instagram, doch davon kann man seine Miete nicht bezahlen. Der Musiker und Komponist Kiko Dinucci hätte am 19. März ein Konzert in der Casa Francisca gehabt, einem Veranstaltungsort im Zentrum von São Paulo mit einer Kapazität von 200 Plätzen. Anstatt das Konzert abzusagen, trat Dinucci ohne Publikum auf und übertrug das Konzert online. Er hatte über drei Millionen Zuschauer. Der leere Saal mit den unbesetzten Tischen und Stühlen, die geöffneten Fenster auf ein völlig stilles Zentrum von São Paulo hatten für mich etwas extrem Verstörendes.
Betroffen sind alle, die im Kulturbetrieb arbeiten: Lichttechniker, Tontechniker, Bühnentechniker, Bühnenbildner, Roadies, Produzenten, und die Veranstaltungsorte selbst, die jetzt schon bankrott sind.
Auch wir Schriftsteller·innen sind betroffen. Nirgendwo auf der Welt kann man von Urheberrechten leben, aber in São Paulo werden wir immerhin für Lesungen bezahlt. Alle meine Lesungen wurden bis mindestens Ende April abgesagt.
Wer Schreibworkshops anbietet, kann noch am ehesten mit der Krise umgehen und auf Zoom oder Skype umsteigen. Auch ich biete meine wöchentliche Poesieschreibwerkstatt jetzt im Netz an. Es gibt jede Menge Angebote für alle erdenklichen Genres, und alle möglichen Portemonnaie-Größen (bei einigen entscheidet man selbst, was man zahlt). Vorerst gibt es einen ziemlichen Ansturm, aber wer weiß, ob das so bleibt.
Coronaro raus!
Wir sagen gerne: Brasilien hat gerade zwei große Probleme – Covid-19 und B17. Die 17 war Bolsonaros Nummer auf der Wahlliste. Ständig reden wir entweder über das eine oder das andere Problem. Sogar unsere Zeit wird von der Regierung bestimmt, und ich meine hier nicht die Sommerzeit, auf die nicht umgestellt wurde, weil Bolsonaro es nicht wollte. Seit ungefähr zwei Wochen weiß ich jeden Abend, wann es 20:30 ist. Denn dann gehen die panelaços los: Am offenen Fenster ihrer Häuser und Wohnungen klopfen die Leute auf Töpfe und andere Behältnisse und rufen „Bolsonaro raus“. Ein kleines Mädchen erfand die perfekte Synthese und schrie aus dem Fenster: „Coronaro raus!“. Der Ruf wurde zum Meme. Spott hat uns schon immer verbunden, warum sollte das jetzt anders sein.
Wir Brasilianer sind gesellig und besuchen uns gerne gegenseitig zuhause. Da das nicht mehr möglich ist, essen wir eben auf Skype zusammen zu Mittag, trinken Kaffee vor der Whatsapp-Kamera und essen per Zoom in Gruppen zu Abend.
Zum Beispiel die Gruppe Moela Agridoce (süßsaurer Hühnermagen). Der Musiker Dudu Tsuda lud vor Covid-19 seine Freunde über WhatsApp zum Abendessen ein und servierte jedes Mal ein anderes Rezept dieses brasilianischen Gerichts. Inzwischen gehören mehr als 20 Leute zur Gruppe. Es werden Memes, empörte Kommentare über die Regierung, Ankündigungen von Online-Auftritten ausgetauscht. Man trifft sich zum Abendessen auf Zoom, oft dauern die Sitzungen über eine Stunde. Bisher haben zwei dieser Treffen stattgefunden, es ging vor allem darum, wie man mit der Pandemie umgeht. „Ich kann mir gut vorstellen, dass diese neue Art des Sozialisierens unser Verhalten und unseren Umgang mit Begegnungen und Anwesenheit tiefgreifend verändern wird“, sagt Tsuda. Die Mitglieder der Gruppe haben sich vorgenommen, sich nach der Pandemie öfter als früher zu treffen.
Auch wer nicht zu dieser Gruppe gehört, erhält Unmengen an Informationen über WhatsApp: Videoanleitungen für das Nähen von Masken aus einem alten T-Shirt oder Büstenhalter, Videos die warnen, Masken seien nutzlos, Audios, die behaupten, heißes Wasser zu trinken schütze vor dem Virus, dann wieder Audios, die das als komplett sinnlos entlarven. Seit ein paar Tagen überwiegen die witzigen, einfallsreichen Nachrichten, die diese bedrückende Lage, in der man Freunde und Partner nicht mehr treffen kann und nicht arbeiten geht, für einen Moment erhellen. Gestern schaute Juliana auf ihr Handy und fing an zu lachen, „Worüber lachst du?“, fragte ich. Ein selbstgefilmtes Video zeigte einen Mann namens MC Rayban, der ein selbstgeschriebenes Lied im „Funk Carioca“-Stil sang, einem sehr beliebten Rhythmus aus Rio de Janeiro (der mit dem aus den USA stammenden Funk nichts zu tun hat). Wenig später tanzten wir lauthals singend durch die Wohnung. „Nachricht für meine brasilianischen Landsleute“, heißt es auf dem Video. Und das Lied: „Bakterie du elendes Miststück/verdammte Mikrobe/vermasselst das Liebesglück /die Arbeit ruht in Frieden/doch Brasilien ist vereint/und hat folgendes entschieden/ Covid-19: klares Nein/ und auch C-20 kriegt uns nicht klein.“ Ich hab getan, was alle tun und das Video weitergeleitet: „Hahaha“, hat meine Freundin Susana geantwortet, die in Nordostbrasilien, fast 2,5 tausend Kilometer von hier entfernt lebt. „Ich schick Dir eine andere Version des Lieds.“ Während ich wartete, teilte ich das Lied mit Isabel, die in Porto Alegre lebt, mehr als 1000 km von hier entfernt. Ihre Antwort bestand aus Emojs: drei staundende Gesichter. „Brasilien ist eine Show“, schrieb sie dazu. Und sie hat Recht. Was gestern den Tag hier bei uns zuhause gerettet hat: Dieses Lied zu grölen, das den Virus zur Hölle schickt. Diese Mikrofreude kann uns niemand nehmen.
Übersetzung aus dem Portugiesischen (Brasilien): Odile Kennel
Zuerst am 17.4.20 erschienen im Tagesspiegel