Rettungsboot

  • Newspaper Article

19.04.2020
With Fariba Vafi

Dieser Artikel von Fariba Vafi wurde am 19.4.20 in der Zeitung Tagesspiegel veröffentlicht.

Rettungsboot

Heimlich, still und leise schleicht Corona sich in unser Land. Der Winter geht zu Ende. Als es an unserer Wohnungstür klingelt, mache ich auf und sehe meinen Neffen die Treppe hochkommen, beladen mit Kartons und Schachteln voller Lebensmittel und getrocknetem Fladenbrot.
„Ab heute geh ich in Quarantäne“, sagt er. „Ihr müsst das auch machen.“
Da ich häufig lesend oder schreibend Zeit zu Hause verbringe, wäre eine Quarantäne für mich weder völlig neu, noch würde sie besondere Einschränkung bedeuten. Tatsächlich verschafft sie mir sogar ein wenig Freiheit. Unnötiges Hin und Her, Verwandtenbesuche, hierzulande im engen familiären Umgang miteinander üblich und bisweilen aus Pflichtgefühl absolviert, entfallen nun ohne weiteres. Und doch herrscht, von den Nachrichten um uns herum weitgehend verdrängt, große Anspannung. Meinem Neffen, sechsundvierzig, alleinstehend, gesellig, macht das Virus unglaubliche Angst, und er igelt sich schneller ein als der Rest der Familie.
Mit zweiwöchiger Verzögerung melden die heimischen Nachrichten offiziell das Auftreten des Virus in der heiligen Stadt Ghom.
Über die Jahre hin haben wir gelernt, uns auf offizielle Meldungen unsere eigenen Reime zu machen. Die ewige Heimlichtuerei und die unverblümten Lügen unserer Verantwortungsträger und der offiziellen Medien in unserer intransparenten Gesellschaft haben uns zu krankhaft misstrauischen Pessimisten gemacht. Wir glauben nie, was wir hören, wir können nicht erkennen, wo die Wahrheit liegt, und wieviel von ihr man uns überhaupt zu erkennen gestattet. Misstrauen halte ich für gefährlicher als jedes Virus. Ein Virus vergeht eines Tages, Misstrauen aber bleibt. Es befällt den Geist und die Seele des Menschen, und keine Impfung der Welt hilft dagegen. Zudem gehen chronische Depressionen, geistige Verwirrung, Orientierungslosigkeit damit einher. Und mit der Zeit erwächst daraus eine junge Generation, die in nichts in diesem Leben und nichts auf dieser Welt mehr Vertrauen setzt. In Ghom sorgt Corona unterdessen für Wirrwarr. Obwohl angeblich Studierende aus China es eingeschleppt haben, wurde der Flugverkehr zwischen China und Iran nicht eingestellt. Für die Stadt ist eine Quarantäne im Gespräch, aber unter den Machthabenden finden sich immer einige, die landesweit einheitliche Entscheidungen zu verhindern wissen. Unter den Fundamentalisten vertreten einige gar die Ansicht, Schreine und andere heilige Stätten wendeten das Unheil ab und müssten deshalb gar nicht geschlossen werden. Wie zum Beweis leckte ein Mann am Grabmal in einem Schrein, und in den sozialen Medien rät man der Bevölkerung, in heiligen Schriften erwähnte Öle und Heilkräuter zu nutzen. Der Menschen Sinn für Humor und Ironie, der ihnen seit jeher als blanke Waffe gegen den offiziell verbreiteten Aberglauben dient, findet derzeit reichlich Nahrung. Witzige Videoclips machen via Handys die Runde.
Das Virus, von allem Wirbel unbeeindruckt, heftet sich an einen Reisenden und erreicht von Ghom aus rasch die Hauptstadt. Den Menschen im Land schwirren die Köpfe, vor lauter Gerüchten, widersprüchlichen Nachrichten, falschen und richtigen Hinweisen zur Gesundheitsvorsorge, und sie fühlen sich ungefähr so wie einst die Passagiere auf der Titanic, wobei diesmal Rettungsboote nur für Kinder und Jugendliche vorhanden sind. Unterdessen muss die Regierung das Freitagsgebet, die größte Machtdemonstration der Islamischen Republik, absagen. Schreine, Moscheen, Heiligengräber und andere Orte, an denen Gläubige zusammenkommen, werden, ungeachtet aller Fundamentalistenproteste, geschlossen.
Jeder geht auf seine Weise mit Corona um. Das betagte Ehepaar in der Wohnung unter uns zieht sich in seine stille, dunkle Behausung zurück und wünscht sich vielleicht, wie die sieben Schläfer in der Höhle bei Ephesus, erst Jahrhunderte später wieder zu erwachen. Viele Menschen, meine Neffe unter ihnen, schotten sich vollständig ab und verfolgen Tag und Nacht, mit viel Aufwand und Einsatz, was um sie herum geschieht. Sie ärgern sich über die Gleichgültigkeit von Zeitgenossen, die Warnungen in den Wind schlagen und auch jetzt noch draußen unterwegs sind, statt zu Hause zu bleiben, und heften sich ihren Verwandten, insbesondere den Eltern, per Telefon und Internet an die Fersen. Mein Neffe trägt mittlerweile einen Vollbart und heißt jetzt im Kreise der Familie, die der Außenwelt noch nicht vollends den Rücken gekehrt hat, Robinson Crusoe. Alle bemühen sich nach Kräften, seine Befürchtungen zu zerstreuen, sie zumindest zu lindern. Sie raten ihm, seine Insel täglich für eine Stunde zu verlassen und draußen spazieren zu gehen, damit er den Kontakt zur realen Außenwelt nicht verliert. Darüber, was die reale Außenwelt eigentlich ausmacht, führen sie dann stundenlange Debatten. Zum Spaß sagen sie, Robinson wird eines Tages aus dem Haus gehen und sich erstaunt die Augen reiben, weil es eine neue Landeswährung gibt, das Stadtbild sich verändert hat, die Menschen sich anders kleiden. Derlei therapeutische Späße kommentiert Robinson mit der Feststellung, dass man am Corona-Virus kampflos zugrunde gehe und er keineswegs so sterben wolle. Durch seine Quarantäne entzieht er sich, wie er sagt, sowohl seinem tatsächlich als auch dem potenziell infizierten Umfeld und baut sich auf diese Weise sein eigenes Rettungsboot.
Allerdings gibt es auch Menschen, die nichts zu essen haben, wenn sie zu Hause bleiben. Zu ihnen zählen Kleinunternehmer, Tagelöhner, Straßenhändler, alleinerziehende Mütter, Taxifahrer und viele andere Angehörige jener Gesellschaftsschichten, denen die Rezession der vergangenen Jahre bereits die letzten Kräfte geraubt hat. Für sie ist das Virus wie ein direkt auf ihre hageren, ausgezehrten Gestalten zielender Pfeil.
Viele junge Menschen sind nach der Zerschlagung aller zivilgesellschaftlichen Protestbewegungen der letzten Jahre bis ins Mark enttäuscht und hoffnungslos. Weil sie ihre Lage schon vor dem Ausbruch des Virus für aussichtslos hielten und auch für die Zeit nach Corona keinerlei Perspektive sehen, ist es ihnen einerlei, ob sie sich im Freien aufhalten oder zu Hause bleiben. Sie kochen vor Wut und haben nichts mehr zu verlieren. Da die meisten Menschen hierzulande den größten Teil ihres Lebens unter wachsender Ungleichheit und Ungerechtigkeit in einer von erdrückenden Sanktionen geplagten Gesellschaft verbracht und bereits zahlreiche Krisen gemeistert haben, erleben sie die Corona-Krise als nichts Besonderes. Im Herbst letzten Jahres starben viele, meist junge Leute bei Straßenprotesten. Viele Familien hatten Opfer zu beklagen. Zahllose Protestierende wurden festgenommen und gemeinsam mit Umweltaktivisten und anderen zivilgesellschaftlich engagierten jungen Menschen zu langen Haftstrafen verurteilt. Als das verheerendste, zugleich traurigste Ereignis empfindet die Gesellschaft jedoch den Fehler der iranischen Flugabwehr, der [dÜ: im vergangenen Januar] den Abschuss des ukrainischen Passagierflugzeugs PS752 zur Folge hatte, bei dem alle [dÜ: 176] Insassen ums Leben kamen. Nicht unerwähnt sollten diejenigen Menschen bleiben, die durch ihr unvernünftiges Verhalten ihre Familienangehörigen gleich mehrfach in Gefahr bringen. Eine dieser Verhaltensweisen besteht im Konsum von Alkohol. Der ist hierzulande zwar seit vier Jahrzehnten verboten, stadtweit aber erhältlich. In großen Mengen wird er dieser Tage zur Desinfektion gebraucht. Nach Jahrhunderten ist gar der Name seines Entdeckers, Zakariya al-Razi, wieder in aller Munde, noch vor allen Heiligen und anderen Celebrities. Vom Händewaschen abgesehen, sind manche Leute dem Irrglauben erlegen, das Corona-Virus ließe sich im Rachen durch Gurgeln mit Alkohol abtöten. Wobei einige Menschen sich nicht aufs Gurgeln beschränken, sondern die Flüssigkeit auch in größeren Mengen trinken und im allgemeinen Chaos aus einem ganzen Sortiment von Schwarzbränden wählen können. Deren Konsum kostete binnen weniger Wochen mehr als dreihundert Menschen das Leben, weil offizielle Kontrollen unterbleiben. Und wer mit dem Leben davonkommt, büßt bisweilen sein Augenlicht ein.
Die Einschränkungen des Stadtlebens treffen mit dem Frühlingsanfang und mit Nowrus zusammen, dem seit Jahrtausenden gefeierten, hierzulande größten Fest des Jahres. Das auch für neues Leben steht. Das man mit Frühjahrsputz, frischen Lebensmitteln und anderen Einkäufen begrüßt. Alles blitzt vor Sauberkeit, und man nimmt sich Zeit für Besuche und Gegenbesuche. Dieses Jahr aber ist von Feststimmung nichts zu spüren. Es regnet zwar, die Luft ist frisch. Die Bäume blühen. Es duftet überall nach Blumen, und man hört die Vögel vernehmlicher zwitschern als sonst. Besuche, Gegenbesuche, Gästebewirtung aber sind untersagt. Stattdessen müssen die Leute zu Hause bleiben und ihr Leben und ihre vier Wände neu erfinden. Die nimmt man nun genauer unter die Lupe und findet Schwachstellen. Eine Freundin berichtet, sie habe sich seit ewigen Zeiten darum gedrückt, eine bestimmte Ecke im Haus sauberzumachen. Nun komme sie nicht länger darum herum. Die Beziehung der Menschen zu ihren Wohnräumen ändert sich. Sie sind jetzt keine bloßen Aufenthaltsorte mehr. Auch nicht mehr nur Orte, an denen man schläft. Jetzt findet hier alles statt: arbeiten, schlafen, essen, spazieren gehen, nachdenken. Es geht nicht mehr nur darum, die vier Wände sauber zu halten. Man muss sich mit ihnen arrangieren. Die Familie kommt zusammen. Man bemüht sich redlich, aus der Not eine Tugend zu machen, die Krise als Chance zu begreifen und das familiäre Beisammensein zu genießen. Zumindest wird im Fernsehen und in den sozialen Medien dazu geraten, dafür geworben. Berufstätige Männer und Frauen, Mütter und Väter, die sich das ganze Jahr über abgerackert haben, können sich jetzt, in der wohlverdienten Frühjahrspause, ungeniert vor die Glotze hängen und ausspannen. Kinder haben schul- und hausaufgabenfrei und können bis weit nach Mittag im Bett bleiben. Alle verwenden in diesen Tagen mehr Sorgfalt aufs Händewaschen. Die von Müttern unermüdlich und über Jahre hin vergebens gepredigten Hygieneregeln finden plötzlich wie von selbst Beachtung. Doch ganz so mühelos, wie es scheint, fügen sich die Puzzleteile, die eine Wohnung ausmachen, nicht zusammen. Die vier Wände stehen unter Hochdruck, so manches Zuhause gar kurz vor der Explosion. In vielen sehr kleinen Stadtwohnungen müssen Familien einander nun notgedrungen Tag und Nacht ertragen. Auf engstem Raum, in dem jedes Familienmitglied sein heiß umkämpftes Fleckchen für sich beansprucht.
Für die Frauen bleibt hier am wenigsten Platz, bei steigender Arbeitslast. Sie müssen alles, was ins Haus gebracht wird, mehrmals waschen. Sie müssen über die Einhaltung der Hygieneregeln wachen. Sie müssen sich um die mit unter ihrem Dach lebenden alten Menschen kümmern, müssen die Jüngsten beschäftigen, die Älteren bei Laune halten. Sie müssen mit gereizt mäkelnden Ehemännern Kindererziehung und tausend andere Familienangelegenheiten ausdiskutieren. Und sie müssen die Haushaltskasse führen. Das bisschen Raum, das sie bisher für sich hatten, sobald alle anderen tagsüber aus dem Haus waren, haben sie binnen weniger Tage eingebüßt, und auch die einfache Möglichkeit, Haus oder Wohnung vorübergehend zu verlassen, ist ihnen nun verwehrt.
Frauen aus dem Mittelstand ertrugen dieses Los zwar relativ leicht, doch nun gehen auch sie weder ins Fitnessstudio noch ins Schwimmbad, und von privaten Treffen müssen auch sie nun absehen. Die häuslichen Krisen sind untrennbar mit den Überlebenskämpfen draußen verknüpft. Das kranke Wirtschaftssystem versagt bei der Entwicklung und Umsetzung von Hilfsprogrammen. Es hat sich seiner Verantwortung für die allgemeine Gesundheits- und Daseinsvorsorge entledigt und bürdet diese Last jedem einzelnen Bürger auf. Von finanzieller Hilfe ganz zu schweigen. Jeder muss sehen, wie er zurecht kommt. Ohne jede staatliche Unterstützung. Darüber, dass häusliche Gewalt und Prügeleien sich stark häufen, wird in den offiziellen Medien kaum ein Wort verloren. Die Scheidungsrate ist hoch. In einer Provinz im Norden des Landes ist es mittlerweile verboten, Scheidungen einzureichen. Laut Gesundheitsamt gehen aufgrund häuslicher Streitigkeiten mittlerweile dreimal mehr Anrufe ein als bisher.
Corona greift indes weiter um sich. Wer unter Quarantäne steht, lebt auf Inseln, per Internet miteinander verbunden. Die ganze Welt ist über das Befinden ihrer Bürger im Bilde. Die einen legen Puzzles, andere kochen, tanzen, schauen Filme oder Seifenopern, und alle dürfen ihnen dabei zuschauen. Ich mache Besorgungen für die Nachbarn unter mir und stelle ihnen die Einkäufe vor die Tür. Kein Lebenszeichen indes von Robinson. Seine Schritte, manchmal noch spät abends ein Hinweis auf seine Schlaflosigkeit, sind seit einiger Zeit nicht mehr zu hören. Ich erkundige mich nach ihm. Das lange Alleinsein setzt ihm zu. „Jetzt kann ich nachempfinden, wie jemand in Isolationshaft sich fühlt“, sagt er.
Die Lage in den Gefängnissen gibt allen Grund zur Beunruhigung. Die Regierung hat nur einen Bruchteil aller Häftlinge entlassen. Zahllose Protestschreiben kursieren. In einem fordern Kunstschaffende, Autorinnen, Übersetzer, Filmemacher, Aktivisten der Zivilgesellschaft Hafturlaub für alle Gefangenen. Wo es zu Gefängnisrevolten kommt, gelingt manchen Insassen die Flucht. Aber auch an anderen Orten, an denen viele Menschen auf engem Raum zusammenleben, besteht Infektionsgefahr. Corona macht vor Senioren- und Pflegeheimen nicht Halt.
Und selbst wenn es in den Straßen der Stadt ruhig wird, sieht man noch Kinder ihre bloßen Hände nach Geld ausstrecken, während sie an großen Kreuzungen Autofenster putzen. Obdachlose wühlen mit bloßen Händen im Müll. Straßenhändler breiten an allen Ecken ihr Warenangebot aus. Robinson hat seine anfängliche Ratlosigkeit überwunden, lässt das Obst und die Speisen, die wir ihm vor die Tür stellen, aber unberührt. Während wir uns seiner extremen Haltung und seiner möglichen Unterversorgung mit frischen Lebensmitteln wegen Gedanken machen, macht er Pläne für sich und für uns. Er rationiert seine Vorräte. Treibt täglich Sport. Wenn er in seiner Wohnung über mir Seil springt, wackelt in meiner Wohnung die Decke. Täglich verfolgt er den Verlauf der Corona-Krankheitskurve und hält unsere Telegram-Gruppe auf dem Laufenden.
Überhaupt liefern Chat-Gruppen bei Telegram und Whats-App Nutzern, die Antworten auf ihre Fragen suchen, wichtige Informationen. Hier hat man wirklich Zugang zu allem. Gesundheitstipps, neuste wissenschaftliche Erkenntnisse, Aufsätze über das Corona-Virus und über die Zeit danach. Gruppenmitgliedern, die eifriger bei der Sache sind als andere, kommt die Aufgabe zu, den vor Angst Traumatisierten Mut zu machen, moralischen Beistand zu leisten. Die einen sorgen sich um ihre im Ausland studierenden Kinder. Andere stehen vor dem Bankrott. Wieder andere sind depressiv geworden. Viele Schüler und Studenten haben keinen Zugang zum Internet oder zu Online-Kursen.
Robinson bestellt uns ins Treppenhaus. Am Fuß der Treppe zu seiner Wohnung sollen wir stehenbleiben. Er bleibt oben an der Treppe stehen. Um angemessenen Abstand zu wahren. Es riecht jetzt nicht mehr nach dem Parfüm der Frau, die kurz zuvor durchs Treppenhaus gegangen ist, sondern nach Alkohol. Robinson, dem und dessen Bauch man ansah, dass er einst mit gesegnetem Appetit aß, führt uns, die wir in jüngster Zeit reichlich gegessen und geschlafen haben, seine neue Figur und den flachen Bauch vor. Woraufhin wir nur entgegnen: „Wenn uns zu beschämen dein Ziel war, hast du’s auf ganzer Linie erreicht.“ Er sagt, er habe erkannt, wie falsch sein bisheriger Lebensstil war und dass er ihn ändern müsse.
Uns erreicht die Nachricht vom Tode eines lieben Freundes. Wir können nicht an sein Grab gehen, um zu trauern. Auch Besuche in Polikliniken oder Krankenhäusern sind nun mit Gefahren verbunden. Die Behandlung von Leiden, die bereits vor Auftreten des Virus regelmäßiger medizinischer Versorgung bedurften, wird schlicht auf unbestimmte Zeit vertagt. Eine ältere Frau befürchtet, man könnte sie nach ihrem Tod mit [*dÜ: desinfizierendem, auch zersetzendem] Kalk bestreuen. Eine andere hat Angst, von ihrer Familie ins Krankenhaus abgeschoben zu werden.
Die Zivilgesellschaft startet zahlreiche Kampagnen. Eine fordert Hausbesitzende und Vermietende zu Mietsenkungen auf. Eine andere sammelt medizinisches Gerät und Material für Ärzte und Pflegepersonal. Eine dritte setzt sich für arbeitslos gewordene Mitbürgerinnen und Mitbürger ein.
Unter dem tagtäglichen Bombardement mit Hiobsbotschaften hat unser Nervenkostüm schwer gelitten. Robinson ruft an. Wir sollen ihm per Videostream folgen. Er scheint Wichtiges verkünden zu wollen. Wir, stets auf das Schlimmste gefasst, stellen uns unwillkürlich auf eine unangenehme Überraschung ein. Robinson führt uns gelassen in jeden Winkel seiner Wohnung. Wir staunen nicht schlecht. Bisher sah seine Behausung immer aus wie nach einem Bombenabwurf. Jetzt ist sie aufgeräumt und blitzblank. Er nimmt uns mit auf seine Dachterrasse, von der aus er sowohl den wolkenlosen blauen Himmel über sich als auch die kranke, schmutzige Stadt und Erde unter sich sehen kann. Er selbst macht den Eindruck, als habe er sich nach reiflicher Überlegung zwischen Himmel und Erde eingerichtet. Er lenkt seine Kamera auf das Grün, das er in den ersten Tagen seiner Quarantäne zu pflanzen angekündigt hatte. Sein Plan scheint aufgegangen, die Pflanzen sind gewachsen. Einige tragen sogar schon Blüten, die im Tageslicht leuchten.

Dieser Artikel von Fariba Vafi ist zuerst am 19.4.20 in der Zeitung Tagesspiegel erschienen.

aus dem Persischen von Jutta Himmelreich.

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